Inne Murre gemurrt
Sechs Nackte „murren inne Murre“, wie Opas Schulkamerad aus der „Volksschule“ sich der innerfamiliären Überlieferung nach auszudrücken beliebte. Genau genommen mantschen sie mit und im Schleim. Im transparenten Schleim, im grauen Schleim, im hässlich beigen Schleim. „Goo“ sagt der Volksmund dazu, wenn der Volksmund englischsprachig aufgewachsen ist - „goo“ für die eklige, klebrige Masse. Kinder finden das nicht eklig: Inne Murre Murren macht ihnen Spaß. Doris Uhlich zeigt überraschenderweise, dass Erwachsene damit ziemlich schöne Bilder herbeizaubern können.
Ein paar Eimer stehen in der Glashalle des Weltkunstzimmers herum, in dem Uhlichs Kompanie beim Düsseldorfer Asphalt Festival gastiert. Ganz still, fast kontemplativ muttken die sechs Performer (3 D, 3 H) in den bereits auf dem Hallenboden ausgekippten Schleim-Pfützen herum. Dann werden die ersten Eimer ausgekippt. Wie in einem rituellen Geister-Beschwörungstanz tanzt einer um eine gelbe Pfütze herum; ein anderer verlegt einen dicken Schleim-Teppich, auf dem man wunderbar schlindern, aber auch gefährlich ausrutschen kann. Das alles wirkt irgendwie spielerisch und harmonisch, so dass man fast überrascht ist, als Boris Kopeinig nach acht Minuten eine ziemlich bedrohlich klingende Soundscape dazu malt. Schleim, so hat die Choreografin vor der Uraufführung der Performance in Wien philosophiert, sei in Zeiten von Covid-19 „zu einem Stoff geworden, der mit Angst behaftet ist.“ Pedra Costa stopft sich die glibberige Masse in den Mund. Angst? Dem Rezensenten geht der alte Kinderreim durch den Kopf: Vor dem Schlafen, nach dem Essen / Zähneputzen nicht vergessen. Der Umgang mit der klebrigen Materie hat etwas von einem Reinigungsritual: Auch die Haare werden gewaschen, und wenn die dicken Schleimplatten gewendet und gestapelt werden, denkt man ans Waschen oder Zusammenfalten von Wäsche.
Zugegeben: Es gibt andere Szenen, die negative Assoziationen hervorrufen können. Wenn Ann Muller sich ekstatisch am schleimigen Boden wälzt, mag das ein Ausdruck von Lust sein, aber es kann sich auch um krankhafte Zuckungen handeln. Später am Abend, wenn die Bühne notdürftig von der rutschigen Materie gereinigt worden ist, kämpft eine Performerin in einem Solo mit einem Schleim-Kissen, steckt tief den Kopf hinein. Sie hustet erst - und schreit dann ihre Pein hinaus. Eine andere versucht verzweifelt auszubrechen und wirft sich immer wieder gegen die Hallenwand. Von Momenten des Ekels konnte man im Vorfeld des Gastspiels hören oder lesen. Meist aber sind die Figuren und Formationen, die das Ensemble erfindet, ästhetisch, von erlesener Schönheit gar. Die Performerinnen und Performer formen aus der Verbindung ihrer Körper mit der triefenden Matsche wunderbare skulpturale Kunstwerke, von denen manche glatt Eingang ins Museum finden könnten. Einmal glaubt man gar eine Pietà zu erkennen, einmal auch ein Liebespaar. Trotz der Nacktheit der Figuren gerät die Performance niemals in die Nähe der Obszönität - im Gegenteil: Sie ist nicht einmal erotisch. Aber viele Bilder erinnern daran, dass der Geburtsvorgang ohne Schleim kaum funktionieren würde: Da flutscht schon mal ein Körper aus einem von den anderen Performern gebildeten Kanal heraus (dem Geburtskanal?); Grete Smitaite drückt sich drei Schleim-Eier an den Unterleib, mehrfach windet sich einer der Performer eine unendlich lange Nabelschnur aus Schleim um den Körper. Man denkt an die Entstehung des Lebens aus dem Mutterleib, an den Urschleim, aus dem die Welt entstanden ist. Der wird an diesem Abend noch so manche blubbernde Blase werfen…
Gootopia scheint also weder Utopie noch Dystopie zu sein - eher erzählt die Performance etwas über die Evolutionsgeschichte. Die sechs Personen halten sich an den Füßen und zucken wie lebendige Schlangen oder Echsen über den Hallenboden. Da haben wir es nicht mehr mit Bildenden Künstlern zu tun, sondern mit archaischen Lebewesen, mit einer primitiveren Kultur vielleicht. Und siehe da: Diese Lebewesen emanzipieren sich in Solotänzen, zu harter, rhythmischer Musik. Erleben wir nun die Entstehung der Arten, so wie wir zuvor der Entstehung des Lebens beigewohnt haben? Und: Was für Lebewesen sind das nun, die da aus Körpermasse und Schleim entstehen? Da gibt es wunderschöne mit langen roten Extremitäten, aber auch andere, primitivere, die nur im blubbernden Schleim existieren zu können scheinen. - Genaues weiß man nicht; man wird auch müde, den sich wiederholenden Bildern zuzuschauen, die immer dann an Kraft verlieren, wenn der Soundtrack von Boris Kopeinig zum Erliegen kommt. Aber in der Erinnerung bleibt nicht die Müdigkeit, sondern die Macht der Bilder an einem Theaterabend mit einer höchst eigenwilligen, selten gesehenen Ästhetik. Langer Applaus.