Was, wenn die Barriere fällt?
„Lasse nie die Fakten eine gute Geschichte ruinieren“, heißt es irgendwann einmal in dieser gut einstündigen Performance: „Irony is okay.“ Vielleicht ist es das, was den Charme dieser höchst unterhaltsamen, ungeheuer sympathischen und doch klare politische Aussagen treffenden Tanzperformance ausmacht: Hillbrowification ist nicht aggressiv, sondern fröhlich, die Aufführung rammt Pflöcke ein gegen Kolonialisierung und Rassismus, aber sie tut das mit überbordender Phantasie, mit Witz und Ironie. Sie ist nicht verkopft, aber sie reißt auch komplexe Denkmodelle an, ohne dass diese zum Verständnis der Grundaussagen der Inszenierung vollständig analysiert werden müssten. Die in Argentinien geborene, aber seit 1995 in Berlin ansässige Choreographin Constanza Macras und ihr Team von DorkyPark haben mit circa 20 Jugendlichen aus dem Johannesburger Stadtteil Hillbrow einen wunderbaren assoziativen Abend erschaffen, und man kann nur hoffen, dass die Jugendlichen (von denen einige seit der Premiere vor vier Jahren bereits erwachsen geworden sind), sich ihre Leichtigkeit und ihre Lust am spielerischen, ironischen Umgang mit der eigenen Geschichte (Story wie History!) erhalten.
Vielleicht ist die Fähigkeit zur Ironie in Hillbrow lebenswichtig. Zu Zeiten der Apartheid war Hillbrow das Geschäftszentrum von Johannesburg und ausschließlich von Weißen bewohnt. Immerhin war der Stadtteil eine Hochburg der Progressive Federal Party, die sich seinerzeit als einzige im Parlament vertretene Partei gegen das System der Apartheid wandte. Mit der Abschaffung der rigiden Rassentrennungs-Systems im Jahre 1992 und der zwei Jahre darauf folgenden Übernahme der Präsidentschaft durch Nelson Mandela aber zog die weiße Bevölkerung aus Hillbrow fort. Der Stadtteil verfiel; die Kriminalitätsrate stieg, Slums entstanden, und Banden machten die Gegend unsicher. Eine der Institutionen, die sich gegen diese Entwicklung stemmen und insbesondere den Jugendlichen Halt zu geben versuchen, ist das von der Outreach Foundation getragene Hillbrow Theatre, das als Koproduzent von Constanza Macras‘ Tanzprojekt fungiert.
Die Weißen sind fort, das Elend ist da, und nun wandert eine neue Spezies von Lebewesen in den Stadtteil ein. Besser gesagt: Eine neue Spezies macht sich die Erde untertan. Radarsignale trennen Land und Meer, Astronauten aus einer anderen Welt landen auf dem Planeten und erforschen, was sie da so vorfinden. Die raue Bühne in der Gebläsehalle des Landschaftsparks Duisburg-Nord wird von warmem Licht erleuchtet. Ein junger Mann wagt sich langsam mit einer Art Slow-Breakdance-Bewegungen vor; roboterartig folgt ein zweiter, dann ein Dritter, der eine merkwürdige, zackige schwarze Maske über dem Kopf trägt. Er ist der einzige Weiße im Ensemble, was unter der schwarzen Maske lange verborgen bleibt, und man darf rätseln, warum er sich nicht zu erkennen gibt. (In ihren utopischen Teilen jedenfalls behauptet die Choreografie die vollständige Aufhebung ethnischer Differenzen.) Zwei ganz junge Performer rasen mit Salti auf den Zuschauerraum zu als hießen sie Klose und hätten ein Tor geschossen. Harmonische Xylophon-Klänge passen zum warmen Beleuchtungskonzept. Nein, die Aliens in ihren quietschbunten, poppigen Kostümen wirken nicht wirklich bedrohlich. Doch: warum weichen sie plötzlich zurück, skeptisch, vielleicht gar angeekelt angesichts der Erdbevölkerung? Sie sammeln sich, und sie übernehmen die Macht. Der Zustand auf der Erde, den die Tänzerinnen und Tänzer aus Hillbrow beschreiben, gibt zu denken: Normale Arbeiterinnen und Arbeiter gibt es nicht mehr, nur noch „schuftende Nomaden“. Und wer nicht tanzen kann, sollte es schnellstens lernen, denn sonst hat er kaum noch eine Existenzberechtigung. Der ungelenke Schreiber dieser Zeilen hätte jedenfalls unter den neuen Herren nichts zu lachen.
Da haben die fröhlichen Performerinnen und Performer doch tatsächlich ein böses Gleichnis von der afrikanischen Kolonialgeschichte hinter ihren Tänzen versteckt. In den ausgiebigen Textpassagen wird nicht nur fröhlich phantasiert, sondern auch auf Motive des Johannesburger Philosophen und Postkolonialismus-Forschers Achille Mbembe oder der afroamerikanischen Schriftstellerin Andrea Hairston zurückgegriffen. Die assoziative Geschichte schwankt zwischen dystopischen und phantasievollen utopischen Zukunftsentwürfen, erzählt von existenzbedrohenden Erfahrungen und der erfolgreichen Suche nach Auswegen. Die „schuftenden Nomaden“ - das war zu Apartheid-Zeiten und ist auch heute noch in vielen Bereichen der afrikanischen Gesellschaft Realität. Ein Performer erzählt, dass er auf einem Schrottplatz für Autoteile lebte. Er hat sich wunderbar damit arrangiert und sie zu Kunstwerken arrangiert, die, wie die Aliens meinen, so großartig sind, dass sie niemals von Menschenhand gemacht sein können. Aber: „Back home we don’t care about poetry“, heißt es dann wieder: „Wir lassen die Menschen einfach in den Straßen sterben.“ Dann wieder folgen optimistische Zukunftsentwürfe: Anstatt Treppen zu nutzen, lernen die Menschen zu springen, viele Stockwerke hoch und wieder hinab. Von fremdenfeindlichen Vorurteilen in der innerafrikanischen Gesellschaft ist die Rede, die sich leicht auf Europa übertragen lassen: Die Menschen aus Zimbabwe klauen die Handys der Südafrikaner und verkaufen sie anschließend an die Nigerianer. Dagegen könnten Vielfalt und Toleranz nützen: Da die neuen Herrscher den Tanz als Voraussetzung für die Existenzberechtigung der Menschen definiert haben, bekommt dieser politische Bedeutung. Tango oder Kisomba, traditionelle Tänze aus allen Regionen der Welt: Die Vielfalt rettet Leben unter der neuen Herrschaft. Nur der Konzepttanz wird als neoliberale Variante stigmatisiert. Wer ihn ausübt, sagt man, ist ausschließlich auf den eigenen Vorteil aus - die Toleranz hat also Grenzen, und die sind oft willkürlich gezogen.
Die „Grenze“ ist ein Schlüsselbegriff in den Textpassagen der Tanzperformance. Im englischen Original lautet das Wort „Barrier“ - Barriere. Macras greift hier auf ein Motiv aus Andrea Hairstons Science Fiction Roman „Mindscape“ zurück, in dem die Welt durch eine scheinbar unüberwindliche Barriere in Kriegsgebiete eingemauert wurde. Nur längst verschüttetes indigenes Wissen, das durch die tanzenden Geister der Vorfahren übermittelt wird, kann die Mauer überwinden und die leidende Bevölkerung heilen. Bei Constanza Macras entscheiden sich die Aliens bald, die „barrier“ zu überschreiten. Das kann zu kolonialistischen Attitüden führen, zur Verletzung territorialer Ansprüche, zur Missachtung und Zerstörung von Kulturen. Aber Abgrenzung ist auch keine Lösung. Toleranz und Vielfalt, gegenseitiges Lernen voneinander und gegenseitige Akzeptanz bringen die Barrieren im konstruktiven Sinne zum Einsturz. Wie Hairston sucht „Hillbrowification“ nach Möglichkeiten, rassistische oder klassistische Spaltungen zu überwinden und über Rassen- und Klassengrenzen hinweg konstruktiv auf Augenhöhe zusammenzuleben - nicht in einer Multikulti-Gesellschaft, sondern polyglott oder, wie es eine von Hairstons Figuren ausdrückt, „polywise“ (zitiert nach einer Rezension aus dem „Valley Advocate“ aus Massachusetts). Dann entsteht eine Kraft, mit der man aus dem Stand Treppen und sonstige hohe Hürden spielend überwinden kann.