Unter Qualen zum Optimismus
Rumms. Neun Trommlerinnen und Trommler dreschen einmal kurz auf ihr Trommel-Set. Schon dieser eine Trommelschlag lässt eine ungeheure Energie spüren. Dann herrscht wieder Stille. Und wieder ein Trommelschlag, gefolgt von Stille. Und nochmal. Und wieder und wieder. Neun Tänzerinnen und Tänzer sitzen auf der Großen Bühne des Festspielhauses in Recklinghausen auf Stühlen, verändern mit jedem Schlag blitzartig ihre Posen und frieren ihre Bewegungen wieder ein. In den tableaux vivants, die dabei entstehen, gibt es mal ein Lächeln, mal erstarren die Performerinnen und Performer von Stephanie Lakes aus Melbourne stammender Tanzkompanie im Schrei, mal blicken sie staunend. Ihre Posen sind... witzig, dramatisch, elegant, bedrohlich, verschraubt - you name it, es wird schon stimmen. So erwacht eine Tanzkompanie, so erwacht ein Orchester. Es ist ein Orchester, das ausschließlich aus Frauen und Männern an exakt gleichartigen Trommel-Sets besteht.
Die Bühne von Charles Davis erinnert an Fotos oder Filme von großen Tanzsalons aus den 1930er Jahren. Das Trommel-Ensemble sitzt in der hinteren Hälfte der Bühne auf einer treppenförmigen Pyramide inmitten eines ausladenden roten Vorhangs, der die gesamte Bühne beherrscht. Davor ist jede Menge Platz für die zu erwartenden Tanzkreationen. Rot, Weiß und Schwarz sind die Farben dieser Choreografie: rot die großzügigen Stoff-Dekorationen, Weiß dominiert die Farbe der Kostüme der Tanzenden, Schwarz die der Musikerinnen und Musiker. Ästhetisch ist das perfekt abgestimmt.
Einmal erwacht, nehmen die Aktivitäten zu - sowohl die der Tanzkompanie als auch die der Musiker, deren Rhythmen jetzt variabler werden. Stephanie Lakes Performance-Gruppe tanzt. Virtuos ist das von Beginn an, aber die Bewegungen werden immer explosiver, immer ekstatischer. Mal lösen sich einzelne Tänzerinnen oder Tänzer aus der Gruppe heraus zu kurzen Soli, mal findet sich ein Duo, mal bilden sich zwei oder drei Gruppen - und dann wirbeln wieder alle Neune wie ein einziger Körper in atemberaubendem Tempo über die Bühne. Die Bewegungen reichen von Anklängen an das klassische Ballett bis zum Breakdance. Dabei wechselt die Choreografie in Sekundenschnelle von humorvollen Passagen zu Kampfchoreografien, von Trauer zu rebellischen, aufmüpfigen Bewegungen bis hin zu einer Feier der Lebensfreude, der Kraft und gegenseitigen Vertrauens. Fließende Bewegungen wechseln sich ab mit marionettenhaftem, in einer Szene fast wie die Karikatur von Hampelmännern wirkendem Tanz; harte, fast brutal anmutende Passagen lösen sich auf in kleinen humorvollen Gesten oder Aktionen. Auffallend ist, dass in dieser Choreografie nicht die Musik den Rhythmus des Tanzes bestimmt und nicht der Tanz die Musik herausfordert, sondern Musik und Tanz absolut partnerschaftlich nebeneinander stehen (und am Ende entsprechend gleichberechtigt gefeiert werden). Jeder und jede der Menschen am Schlagzeug bekommt einen kleinen Solo-Auftritt im Spotlight. Mal scheint die eine, mal die andere Fraktion der Performerinnen und Performer im Driving Seat zu sitzen und die Einsätze zu geben - mal die Musik für den Tanz, mal der Tanz für die Musik. Die Trommeln kreieren auch einmal eine Art von Natur- oder Urwaldgeräuschen, mal fast mystische Momente.
Manifesto sei ein „Tattoo to Optimism“, hat Stephanie Lake einmal behauptet. Was immer sie damit meint: Es gibt eine großartige Solo-Passage, in der eine Tänzerin demonstriert, wie viel Qualen für die Freude und den Erfolg eingegangen werden müssen. Sie tanzt - und ihr scheint körperlich übel zu werden. Nach ein paar weiteren Umdrehungen blickt sie strahlend ins Publikum, bevor ihre Gesichtszüge endgültig entgleisen und sie zusammengebrochen auf den Bühnenboden sinkt. Man denkt an die vielen Berichte von den grausamen Qualen, die auch das klassische Ballett seinen Protagonistinnen bisweilen abverlangt. Aber dann folgen wieder Zeichen der Solidarität, ja, sogar der Zärtlichkeit. Das Ensemble agiert wieder äußerst homogen, gegen Schluss sogar mit unendlicher Ausgelassenheit und Fröhlichkeit.
An diesem Ende geht es zurück auf die Stühle. Aber die Tänzerinnen und Tänzer hält es nicht mehr auf ihren Sitzen, so wenig wie das Publikum beim Schlussapplaus.