Anarchie und Lebensfreude
Ausgerechnet auf der Fahrt zur Aufführung von Mette Ingvartsens Skatepark lauschten wir im Autoradio einer Diskussion über die jüngste Untersuchung zum Bewegungs-Verhalten der Menschen. Home Office, Internet, Handy-Konsum - zunehmend verbringe die Bevölkerung ihre Zeit im Sitzen; Jugendliche würden im Schnitt gar 10,5 Stunden pro Tag sitzen. Diese hier nicht, die uns in den kommenden 75 Minuten in der Jahrhunderthalle Bochum unterhalten werden. Bei der Ruhrtriennale gibt es Leistungssport zu sehen. Entsprechend beginnen die Akteure lange vor dem Anpfiff mit dem Aufwärmen. Neben uns robbt eine abenteuerlich angemalte Jugendliche heftig mit dem Kopf ruckelnd durch die Gänge, klaut einer Zuschauerin das Handy und macht erstmal ein Selfie; später wird sie sich auch einmal als rotzige Punk-Röhre versuchen. Die eher zufällig zustande gekommene Szene fasst bereits die folgende Aufführung in a nutshell zusammen: Skatepark ist Bewegung, Unangepasstheit und Anarchie. Aber auch, wir werden es erleben: Hilfsbereitschaft und Gemeinschaftsgefühl.
Fast unmerklich geht das „Warmlaufen“ in die reguläre Aufführung über. Die Bewegungen verlagern sich auf die Bühne, und nach und nach gehen sie in eine Art Choreografie über. Ingvartsen hat für die seit ihrer Premiere im April in Angers quer durch Europa tourende Aufführung einen festen Stamm an Skatern und Skaterinnen gecastet, der an den jeweiligen Aufführungsorten um weitere lokale Sportlerinnen und Sportler ergänzt wird. Es kommt dabei nicht auf gleiche Leistungsstärke an: Alle beherrschen ihre Fortbewegungsmittel, die vom Skateboard über Rollerskates bis zum alten Autoreifen reichen, in bewundernswertem Maße, aber einige „Profis“ stechen durchaus heraus. Ungeheures Tempo und große Dynamik zeichnen alle Performerinnen und Performer aus. (Darf man sie überhaupt Performer:innen nennen? Sie gehören ja eigentlich einer meist wenig theateraffinen Subkultur an und präsentieren ihre Künste einem für sie fraglos eher ungewöhnlichem Publikum.) Das Aufwärmen dient fraglos auch dazu, sich mit den unterschiedlichen Bedingungen der jeweiligen Auftrittsorte vertraut zu machen, obwohl sich die grundsätzliche Konstruktion des Skateparks in Angers und Bochum, Toulouse und Antwerpen, Wien und Oslo nicht unterscheidet: Das französische Architekturbüro Antidote, das in zahlreichen Städten der Welt Skateparks gebaut hat, entwarf für Ingvartsen einen bühnen- resp. hallentauglichen Parcours, der an jedem Ort neu aufgebaut wird. Das dürfte zunächst einmal eine Grundvoraussetzung für eine regelbasierte Choreografie sein. Die Choreografin schwört Stein und Bein, dass es eine solche Choreografie gebe, dass zumindest grundsätzliche Übereinkünfte bezüglich des Bewegungsablaufes und des Energieeinsatzes der durch die Halle wirbelnden Performer bestünden. Die jungen Menschen zwischen 9 und 36 Jahren aber nehmen sich ihren Raum. Sie probieren sich aus, springen über selbst aufgebaute Hindernisse, vollführen atemberaubende Kickturns und Slides, schwingen elegant in die Halfpipe - und fliegen dabei selbstverständlich auch mal auf die Nase. In vollem Tempo kommen sie sich scheinbar gefährlich nahe - und gehen doch jederzeit rücksichtsvoll und unterstützend miteinander um. Gelungene Übungen werden auch mal mit einer Triumph-Geste gefeiert, die jedoch niemals abwertend gegenüber den übrigen Akteuren ist. Auch das Selfie spielt wieder eine Rolle: Die eigenen Leistungen wollen schließlich dokumentiert werden.
Das Ganze vermittelt tatsächlich den Eindruck einer „geordneten Anarchie“. Da feiert sich die Subkultur - falls Sie geglaubt haben sollten, die hänge nur rum, dann kommen Sie und schauen. Die Virtuosität und die Hochleistungs-Akrobatik dieser Menschen sind bewundernswert. Risikofreude geht hier einher mit unbändiger Lebensfreude. Trotzdem geben sich einige der Performer von Beginn an bereits eine eher abschreckende, aggressive Optik: Zwei oder drei tragen hässliche, entstellende Latex-Masken. Nicht nur vom Alter her scheinen sich hier äußerst heterogene Persönlichkeiten gefunden zu haben, die - meist jeder und jede für sich und dennoch gemeinsam - ihre Kringel ziehen und sich zu einer zumindest in ihrem Bewegungsinteresse homogenen Gruppe finden. Achtsamkeit wird hier in gleich doppeltem Sinne trainiert: Achtsamkeit im Hinblick auf den eigenen, mit gefährlichen Übungen konfrontierten Körper, und Achtsamkeit im Hinblick auf die Gruppenmitglieder - auf die Mitmenschen also. Dieser Verhaltenstrainings-Effekt lässt sich vermutlich auch auf das reale Leben übertragen.
Irgendwann lässt die Kondition nach - und damit auch die Konzentration. Die Stürze häufen sich. Eine Ruhepause tritt ein. Erstmals wird das Licht in der Jahrhunderthalle heruntergefahren; die ohrenbetäubende Musik wird leiser und harmonischer. Nun ist doch der Einsatz von Regie und Choreografie spürbar. Als die wilde Jagd wieder losgeht, tragen sämtliche Performer Horror- und Totenkopfmasken, und das Aggressionspotential steigt. Blitze zucken; ein als alter Mann verkleideter Performer zeigt seine Künste im Breakdance. Der zusammengebrochene Gevatter Tod wird wiederbelebt. Doch es ist wohl kaum ein Totentanz, der hier performt wird. Die wild geschwungene Fahne eines der Darsteller zeigt es an: Es geht wohl um eine Revolte, um Widerstand gegen das Establishment. Auch das ist eine wichtige Facette der Subkultur.