In Trance
Dionysos Bromios („der Lärmer“) tut wieder sein Werk. Vor knapp einer Woche haben wir beim „Rausch"-Festival im Mülheimer Raffelbergpark Die Bakchen , die berühmteste Geschichte seiner Abenteuer und Untaten, gesehen (siehe hier). Jetzt folgt die Herde der Zuschauenden den Kuhglocken ihres Anführers ins Mülheimer Hafengelände, hinein in ein weitgehend leerstehendes, offenbar früher gewerblich genutztes Gebäude mit einer bewegten Geschichte: Einstmals die Zentrale der Lebensmittelkette Schätzlein, fungierte es später als Asylbewerber-Unterkunft. Das „Psychosoziale Zentrum für ausländische Flüchtlinge“ bot noch später Projekte für psychisch belastete Geflüchtete an, und heute dienen Teile des Gebäudes dem Theater an der Ruhr als Probenräume. Unser Kithairon, wo wir uns 2500 Jahre später wie einst die Frauen von Theben in einen Rausch versetzen lassen können, liegt in der 4. Etage. Einzeln, zu zweit oder maximal zu dritt werden wir hochgebeten und nehmen in einem riesigen, unwirtlichen Raum auf einem staubigen Fußboden Platz (für die Älteren gibt es ein paar Stühle an der Wand). Und dann geschieht erstmal – nichts.
Pferdeschwänze hängen von den tragenden Säulen. Stumm bewegen sich die Performerinnen und Performer durch den Raum; sie halten inne, bilden kurze tableaux vivants. Manchmal, zu Beginn seltener, später regelmäßig blicken sie einander an, schauen sie auch einzelnen Zuschauerinnen oder Zuschauern tief in die Augen. Dann beginnen sie um die Hüften zu kreisen, mit den Armen zu rudern oder zu schaufeln – und ganz, ganz langsam entwickelt sich so etwas wie Tanz. Die Performerinnen und Performer versetzen sich in Trance, jede und jeder auf individuelle Weise: Marta Ciappina, die Co-Regisseurin, die mittanzt und die in die Trance führenden Bewegungen am besten zu beherrschen scheint, ist wild und ekstatisch, Käte Henin steht mit geschlossenen Augen völlig entrückt bewegungslos auf einem Fleck, eine andere bleibt zunächst sitzen und bewegt nur ihren Oberkörper. Die meisten tanzen; immer wilder wird ihre Ekstase. Vom Stillstand der ersten Minuten ist keine Rede mehr. Der rhythmische Soundtrack von Mauro Martinuz nimmt ohrenbetäubende Lautstärke an; der Boden des alten Bürogebäudes vibriert. Bromio – der Lärmer: Der Name des Gottes soll, so lautet einer von mehreren Erklärungsversuchen, auf den Donnerschlag zurückzuführen sein. Kein Donner könnte lauter sein.
Manche Performerin strahlt vor Glück. Andere wie die tolle Tänzerin Marie Schulte-Werning nehmen einen beinahe gequälten Ausdruck an; Joshua Zielinski beginnt bei seinen Bewegungen zu stöhnen. Im Kithairon ist die Hölle los, aber auch in der Trance bewahrt ein jeder, bewahrt eine jede ein hohes Maß an Individualität. „All your feelings are okay“, klingt es aus einem Lautsprecher. Ciappina und Henin versinken in einem innigen Kuss. Handreichungen für die Kommunikation eines Erwachsenen mit einem trauernden Kind über den Tod eines geliebten Menschen erklingen. Bald nehmen die Performerinnen die Pferdeschwänze von den Wänden; eine räumt eine Neonleuchte ab, und man verzieht sich in den Nebenraum. Die Musiker folgen. Man tanzt noch eine Weile dort weiter, bis dass das Publikum verstanden hat: Die Transformation in einen alternativen Daseins-Zustand ist beendet.
Denn das soll diese mitreißende Performance zeigen: die Möglichkeit einer Zustandsveränderung durch Tanz und Musik, die Transformation in ein Anderssein bei gleichzeitiger Akzeptanz und Toleranz verschiedener Individuen und wohl auch verschiedener gesellschaftlicher Lebensformen. Eine neue Art von Gemeinschaftserfahrung soll man erleben, so wie die Tänzerinnen und Tänzer über die Haut, über Berührungen, über Blicke, Tanz und Musik neue Bewusstseinszustände zu erforschen versuchen. Wie bei den Bakchen ist es jedoch wohl auch eine Art von Besessenheit, die diese Gruppe erfasst zu haben scheint. Wie bei den Bakchen hat diese Trance, diese Ekstase, dieser Wille zur Transformation und zum Austritt aus der gesellschaftlichen Ordnung auch etwas Subversives. Simone Derais philosophischen, politischen und metaphysischen Überlegungen, die teilweise im Anschluss an die Vorstellung ausgeteilt werden und sich zu anderen Teilen im Netz in Form eines Interviews nachhören lassen, muss man nicht folgen können oder wollen. Aber die rauschhafte, zutiefst beeindruckende Aufführung ist tatsächlich auch eine körperliche Erfahrung und eine perfekte Ergänzung zu den Bakchen.