Ein virtuoser künstlerischer Dialog über die Zeit hinweg
Die große Bühne im Wuppertaler Opernhaus ein einziger kahler Ballsaal, bis auf einen Vorhang auf der Rückwand nackte weiße Wände, davor rechts und hinten zwanzig simple Stühle, in der Ecke ein Klavier.
Aus dem Off ertönt der schmalzige Song „Frühling und Sonnenschein“ aus den Zwanzigern des vorigen Jahrhunderts, der sich mehrfach - im Wechsel mit anderen Songs, Jazz und Live-Gesang - wiederholen wird. Aus einer kaum erkennbaren Tür in der weißen Wand schwingen sich im Gänsemarsch fünf Damen in Glitzerkleidern im Stil der Dreißiger und vier Herren in bravem Anthrazit mit Silberkrawatte auf die Bühne, schauen freundlich ins Publikum und nehmen Platz auf den Stühlen. Elf Stühle bleiben leer. Leerstellen, die höchst bedeutsam sind am heutigen Abend.
Gleichzeitig erscheint auf einer transparenten Projektionsfläche am vorderen Bühnenrand die Aufnahme einer ähnlichen Szene aus dem Archiv des Tanztheaters. Hier allerdings sind es zwanzig Figuren, die in schwarz-weißem Großformat die gesamte Fläche bespielen und das Live-Geschehen dahinter ein wenig zurückdrängen. Ganz klein wirken jetzt die neun realen Figuren in dem riesigen Ballsaal, die über die Zeit hinweg im Spiegel ihrer Originalaufnahmen mit den Projektionen in einen performenden Dialog treten werden.
Was wir erleben ist gleichsam ein Echo auf das Stück Kontakthof, mit dem Pina Bausch im Jahr 1978 das Tanztheater revolutionierte. Es war die Idee ihres Sohnes Salomon Bausch, den Wunsch seiner Mutter, das Stück später einmal mit der Urbesetzung zu wiederholen, aufzugreifen und umzusetzen. Er fand in Meryl Tankard - damals eine der Tänzerinnen, inzwischen selbst gefeierte Choreographin und Filmemacherin - eine Künstlerin, die den Plan grandios umsetzte. Sie schuf eine stark gekürzte Neufassung des Werkes, das in den Dreißigerjahren spielt, ohne dabei die Intension der Schöpferin zu verlassen. Es gelang ihr, neun der Mitwirkenden von einst für ihre Konzeption zu gewinnen. Bewusst wurden die Fehlenden nicht ersetzt, sondern gleichsam als Leerstellen ins Spiel eingewoben. Meryl Tankard sichtete selbst das reichlich vorhandene Film- und Bildmaterial und bearbeitete es für die Inszenierung. Ihr kam zugute, dass Rolf Borzik, langjähriger Lebensgefährte und Mitarbeiter von Pina Bausch, die Aufführungen stets mit der Videokamera dokumentierte und das Material gut archivierte. Interessant ist auch, dass Pina Bausch selbst das Stück zweimal in neuer Form zurück auf die Bühne holte: im Jahr 2000 mit Laien-Seniorinnen und 2008 mit Amateur-Teenagern. Beide Versionen wurden über Jahre im In- und Ausland gezeigt.
Was Meryl Tankard und ihre acht Protagonisten jetzt zeigen, ist gleichsam ein Erinnern, Zurückholen und Echo des Werkes. Unglaublich, mit welcher Beweglichkeit und Grandezza - vor allem die fünf Tänzerinnen - sich 46 Jahre nach der ersten Präsentation auf der Bühne bewegen. Faszinierend die Gestik der Unbestimmtheit, des Verfehlens, die das Begehren in die Irre führt und auch mal ins Groteske verzerrt. Es gibt neckende bis agonale Szenen, wenn auch die erotischen Momente, Anmache und Verlockungen sowie Ekstasen im Echo ein wenig zurückgenommen werden, so bleibt doch die Grundspannung erhalten. Eine Grundspannung, die allerdings durch abrupte Brüche oftmals konterkariert wird. Und immer wieder der direkte Blick ins Publikum, das gelegentlich auch unmittelbar angesprochen wird.
So vor der Pause, wenn die Neun am Bühnenrand sitzen und sich ans Publikum wenden, um ganz persönlich über sich zu sprechen. Während im Original alle Zwanzig in der jeweiligen Muttersprache (ohne Übersetzung) über ein erlebtes Rendezvous berichten, wird im Echo der Blick ins Heute und die Zukunft gerichtet. Jeder nennt seinen Namen: Elisabeth Clarke, Josephine Ann Endicott, Lutz Förster, John Giffin, Ed Kortlandt, Beatrice Libonati, Anne Martin, Artur Rosenfeld, und natürlich Meryl Tankard. Zudem das Alter: die Jüngste ist 69, der Älteste 80. Dann folgt ein ganz persönlicher Wunsch, der auch mal verweigert wird, ein anderes Mal ganz ehrlich klingt: „Ich wünsche mir, ich hätte Kinder bekommen“.
Nach der Pause werden die Filmszenen auf die Rückwand projiziert und rücken dadurch das Bühnengeschehen stärker in den Vordergrund. So etwa das Solo der Jo Ann Endicott, die das Publikum befragt, ob es „was ganz besonderes“ sehen möchte, und nach dem allgemeinen „Ja“ ihr Solo so temperamentvoll tanzt wie vor 46 Jahren auf dem Video.
Vorne am Bühnenrand steht jetzt ein Rappel-Pferdchen, das in Gang gesetzt, auch ohne die eindeutige Gestik der Tänzerin im Original noch ganz schön sexy wirkt.
Ergreifend die Tangoszenen, bei der im Video alle Paare, auf der Bühne auch die vielen Leerstellen - die fehlenden Partner oder gar die nicht anwesenden Paare - mit der Polaroid-Kamera festgehalten werden. Bilder zum Mitnehmen, wie im Original, gibt es im Echo nicht.
Dann folgt noch ein Bild, das in seiner Zudringlichkeit und Trostlosigkeit unter die Haut geht. Die junge, bildschöne Meryl wird von zehn Männern belästigt, betatscht, befummelt, bis sie zu Boden sinkt. Auf der riesigen Bühne steht die gealterte Tänzerin erstarrt, geht ab, bevor die Szene zu Ende ist.
Zum Schluss noch einmal eines der berühmten Pina-Bausch-Diagonale, die Tänzerinnen jetzt in bunten Kleidern auf Pumps.
Es gab begeisterten Applaus und Tränen der Rührung auf der Bühne und im Publikum.