Krücken werden zum Silberwald
Meine beiden Sitznachbarinnen im Forum Freies Theater wirken ausgesprochen sympathisch. Nein, die möchte ich nicht im Schneesturm verlieren; also präge ich mir ihre Gesichter auftragsgemäß ein und horche sie mal ein bisschen aus: nach ihrem Namen, ihrer Cunningham-Erfahrung undsoweiter. Schließlich gehen wir gemeinsam auf eine nicht ungefährliche Reise. Humorvoll, wiewohl ein bisschen zu lang stimmt uns die Sängerin, Choreografin, Tänzerin und Performerin Claire Cunningham auf unsere bevorstehende Bergwanderung ein. Dunkel würd’s, kündigt die Bergführerin an, was logisch erscheint, denn schließlich wandern wir in einsamem Gelände und mutmaßlich über Nacht. Leise und laut werde es auch. Auch für sich selbst sorgt Cunningham vor: Sie werde uns im Parkett ganz nahekommen, aber uns nicht berühren. Keine Berührung – das sollen bitte auch wir beherzigen, denn Cunningham ist gehbehindert. Sie läuft auf Krücken, und so eine Bergwanderung über die Stuhlreihen des Parketts ist durchaus ein prekärer Balance-Akt für die Performerin. Ganz real diente die Uraufführung der Performance im HAU Hebbel am Ufer Berlin im vergangenen November gleichzeitig als Antrittsvorlesung von Cunninghams Einstein-Profil-Professur für Choreografie, Tanz und „Disability Arts“ am HZT (Hochschulübergreifendes Zentrum Tanz) Berlin.
Wieweit solche Balance-Akte allerdings tatsächlich eine Herausforderung für die Performerin darstellen oder vielleicht doch eher tägliche Routine sind, bleibt offen. Cunningham spielt offensiv mit ihrer Behinderung. An der Bühnenrückwand hängt ein schmales, sich zwei oder drei Meter in den Raum erstreckendes weißes Tuch, das im Laufe der Performance zu einem Gletscher wird, auf dem die gehandicapte Wanderin auszurutschen droht. Auch dient das Tuch als Projektionsfläche für stille, wunderbare Videos eines so reißenden wie für die Zuschauerschaft beruhigend wirkenden Gebirgsbachs oder für die vorsichtig tastenden Schritte der Performerin. Einzige weitere Bühnen-Deko ist eine Skulptur aus Krücken, die sich auf einem Teilstück der Wanderung in einen kleinen romantischen Silberwald verwandelt oder nach einem kurzen Umbau, den die Performerin selbst vornimmt, zum engen Zelt für eine frugale Übernachtung wird.
Ansonsten ist Cunningham bestens ausgestattet ist für unser Abenteuer: mit Rucksack, Wanderschuhen, Proviant. Der Marsch durch die Bergwelt findet in Analogie zu Gustav Mahlers "Liedern eines fahrenden Gesellen" statt, die Cunningham mit glasklarer Opernstimme nach und nach zu Gehör bringt. Im ersten Teil des kleinen Liederzyklus, in dem Mahlers Wandergeselle die Hochzeit seines geliebten, angebeteten Mädchens betrauert, mutiert der Gletscher-Stoff für kurze Zeit zu einem langen weißen Rock. Mahlers „Regie-Anweisungen“ für die Musiker werden von Cunningham wandernd umgesetzt. Wenn es (projiziert auf den Bühnen-Boden) heißt: „Not too slow“, dann rennt die drei- oder vierbeinige (Krücken-)Frau und dreht sich schnell im Kreise; heißt es „mit großer Kraft“, imaginiert man mit Hilfe ihrer Bewegungen, wie sie Bäche durchquert, Engstellen auf ihrem Pfad bewältigt oder unter auf den Weg ragenden Felsen hindurchklettert.
Tolle Musik, die auch einen eigenen, beim Lesen surreal, bei der Performance kongenial wirkenden Text untermalt, bewirkt, dass das, was leicht in Langeweile hätte ausarten können, in ungewöhnlicher Form unterhaltsam wird. Cunninghams Werk beinhaltet Elemente von Musiktheater, von Tanz und von Performancekunst, was sich in der Summe zu einer Art Installationskunst addiert. Denn passieren tut nicht allzu viel. Dass es laut werde in der Performance, ist Fake News. Leise, romantisch gar nimmt der 90minütige Abend seinen Lauf. Auch die moderne Non-Mahler-Musik fügt sich schmeichelnd ein in den ruhigen Flow, den die Aufführung entwickelt. Humor, Trauer und ganz viel Ruhe, alles auch durch die warme, die schottische Herkunft der Performerin nicht verleugnende Sprachmelodie befördert, prägen die stark entschleunigte Performance. Diese entwickelt geradezu therapeutische Kraft. Nicht anders als beim Wandern entflieht man bei Cunninghams Performance der Hektik des Alltags und findet zu sich selbst.