Übrigens …

Im flämischen Zauberberg

von Andreas Meyer

Der Reiz einer verschlossenen Tür liegt im Dahinter. Das wissen wir nicht erst seit dem Märchen von Blaubart und seiner Burg. In Flandern sind diese Geschichten gerne mit dem Jugendstil verbunden. Doch während sich etwa das Palais Stoclet in Brüssel nach wie vor hartnäckig weigert, das Geheimnis um sein Innerstes zu lüften, kann die Öffentlichkeit ein anderes architektonisches Kleinod seit der Wende zum 21. Jahrhundert zumindest nach und nach entdecken.

Das Ursulineninstitut liegt ein wenig abseits hinter der Stadt Mechelen, in der Ortschaft Onze-Lieve-Vrouw-Waver. 1841 gründeten die Schwestern vom Orden der Heiligen Ursula hier eine Erziehungsanstalt nebst Internat. Die Zielgruppe: die Töchter von Adel und reichem Bürgertum im Alter von 6 bis 18 Jahren – und das nicht nur aus Europa, sondern nachweislich auch aus Übersee. Um es dieser anspruchsvollen Klientel an nichts fehlen zu lassen, gingen die Ursulinen geschickt mit dem Geschmack der jeweiligen Zeit und trumpften architektonisch ganz groß auf. Mit Erfolg: Vor dem ersten Weltkrieg lebten hier 600 Internatsschülerinnen, 200 davon von Adel und Hochadel. Wie sie gelebt haben, wo sie gelernt haben, lässt sich auf einer Führung erkunden, die der Verein „Wintertuin Ursulinen“ inzwischen organisiert.

„Ja, das ist deutsche Pünktlichkeit“, ruft Marcel Wittemans aus, als die Reisegruppe aus Köln um 10 Uhr vor der Tür steht. Der Pensionär, der sich ehrenamtlich im Ursulinen-Verein engagiert, strahlt übers ganze Gesicht, hat wache, flinke Augen und baut gleich einmal vor: „Wie ich hörte, müssen sie um 12 Uhr schon wieder gehen, aber es wird wohl 12.15 Uhr werden. Kürzer kann ich die Führung nicht machen.“ Damit soll er Recht behalten. Mit rasselndem Schlüsselbund schließt er Saal um Saal auf und die Augen der Besucher werden von Türschwelle zu Türschwelle größer. Denn das Ursulineninstitut ist ein wahres Wunderkabinett, ein optischer Overkill, ein Stil-Mischmasch von Neogotik bis Art Déco von ungeahnter Pracht und dazu überraschend kurios: Da gibt’s den umwerfenden Jugendstil-Wintergarten mit seiner bunt leuchtenden Glaskuppel, in dem sich Schülerinnen und Eltern zum Plausch unterm Palmenwedel trafen. Vitrinen mit astronomischem Gerät und zig ausgestopften Tieren. Schiefe Treppenstufen, die von Generationen von Schülerinnen in Zweierreihen krumm getreten wurden. Den Empire-Saal, in dem früher abends musiziert wurde. Den Speisesaal mit Illustrationen von La Fontaines Fabeln und Reihen von Thonet-Stühlen. Sechs Kilometer bleiverglaste Wandelgänge, damit die noble Kundschaft nicht vom flämischen Landregen durchnässt wurde. Blumenkübel, die von modebewussten Engeln mit flotter Charleston-Frisur getragen werden. Sogar eine Ehrentreppe für Fotos jedweder Art ist vorhanden. Sie besitzt architektonisch zwar keine Funktion, aber schließlich waren die vornehmen Schülerinnen von den Schlössern daheim an Ehrentreppen gewöhnt. Als dekoratives Sahnehäubchen ist die Schweiz, früher wie heute Idealidyll für solvente Erholungssuchende, in den Räumen omnipräsent. Von den Wänden grüßen immer wieder Alpen, schneebedeckte Wälder, Seen, menschenleere Natur – was dem flämischen Mädchenpensionat einen sonderbaren Hauch von Zauberberg verleiht.

Das Erstaunlichste und zugleich Befremdlichste aber ist die sogenannte „Klaviergalerie“: Von einem langen Flur gehen rechts und links jeweils 34 enge Kabinen ab, ausgestattet mit Klavier, zwei Hockern und Notenschrank. Am Ende dieses Ganges, der in seiner Fließbandoptik trotz fein geschliffener Glastüren eher einer Lernfabrik als einem Palast gleicht, wacht vor einem bunten Fenster die Heilige Cäcilia, die Patronin der Musik. Hier übten die Schülerinnen täglich, denn Musik war – neben Französisch, Religion, Benehmen und Konversation – ein Hauptfach der Ausbildung. Was das für eine Geräuschkulisse gewesen sein muss! Hier ein Chopin, gleich nebenan erklingt ein holpernder Czerny, von gegenüber weht schmachtend der berühmte Salon-Schlager Gebet einer Jungfrau herüber. „Nein, nein“, behauptet Marcel Wittemans. „Die Klaviergalerie wurde akustisch so konstruiert, dass sich die Schülerinnen beim Üben gegenseitig nicht störten. Aber fragen Sie mich nicht, warum das so ist.“

Gab’s denn berühmte Namen unter den Schülerinnen? Wie viel kostete die Ausbildung? „Das kann ich Ihnen nicht sagen“, räumt Marcel Wittemans ein. „Aber wenn Sie sich hier umschauen, würde ich sagen: Sie kostete viel, sehr viel.“ Einige Geheimnisse gibt es also in der Tat noch zu entdecken, die Archive sind noch nicht komplett gesichtet. Ob der Verein bisher nicht dazu kam oder die Schwestern noch auf der einen oder anderen Aktentruhe hocken, bleibt offen. Leben überhaupt noch Ursulinen an diesem Ort? „Aber ja“, entgegnet Wittemans. Und zwar zwei Sorten: Die einen seien pensioniert, die anderen pflegebedürftig. Er öffnet vorsichtig ein Fenster in einem der Wandelgänge. Die Glasscheibe hat in der linken Ecke einen Sprung, der Holzflügel wackelt, zu häufig wurde er geöffnet. Wittemans zeigt auf einen modern profanen Appartementbau vor dem Institut. „Dort drüben leben die Schwestern heute. Viele kommen ja die Treppen hier nicht mehr hoch“, erklärt er und schließt rasch das Fenster. „Es zieht“, meint er, aber für einen kurzen Moment sieht der alte Herr wieder aus wie ein Schuljunge, der sich nicht erwischen lassen will. „In den nächsten Jahren wird es darum gehen, die Eigentumsverhältnisse auf den Verein übergehen zu lassen“, fährt er fort. Wer soll das Erbe schließlich sonst verwalten? Denn Nachwuchs haben die Schwestern nicht. Anders übrigens als die angrenzende Schule, die heute zwar kein Internat mehr ist, sich dafür aber bei den Familien der Region großer Beliebtheit erfreut. In den Speiseräumen, auf den Thonet-Stühlen sitzen allerdings nun Jungen wie Mädchen. Und die Säle? Kann man inzwischen über den Verein für Konzerte, Empfänge oder Konferenzen mieten.

12.15 Uhr, die Führung ist vorbei. „Machen Sie es gut“, ruft Marcel Wittemans. „Ich werde jetzt den ganzen Weg noch einmal abgehen und nachschauen, ob ich auch alle Türen wieder verschlossen habe.“ Denn er weiß: „Wenn dann auch ich gegangen bin, wird eine der Schwestern herüberkommen und nachprüfen, ob ich auch keine vergessen habe.“ Und plötzlich ist sie wieder da: diese blaubärtige Neugier nach der nächsten verschlossenen, geheimnisvollen Tür.

Das Ursulineninstitut in Onze-Lieve-Vrouw-Waver/Belgien
Bosstraat 9
2861 Onze-Lieve-Vrouw-Waver
Belgien

Tel. 0039 – 15 – 75 77 28

www.olvwaver.be

Führungen (auch in deutscher Sprache) für Gruppen nach Voranmeldung möglich; Führungen (in niederländischer Sprache) für Einzelpersonen: jeden dritten Sonntag des Monats um 14.30 Uhr, Voranmeldung erbeten

Dauer der Führungen: 2 Stunden

Hoteltipp:

Wer thematisch passend – sprich: kurios, luxuriös und noch dazu mit klerikalem Bezug – nächtigen möchte, wählt das Hotel Martin’s Patershof im nahen Mechelen, das in einer Franziskaner-Kirche aus dem 19. Jahrhundert eingerichtet wurde. Man schläft vor bunten, gotischen Kirchenfenstern und nimmt das Frühstück vor dem originalen Hochaltar unter den Augen vom Lamm Gottes zu sich. (Zimmer ab 89 Euro, www.martins-hotels.com)