Übrigens …

Drehtür-Tango mit Leni Riefenstahl

von Dietmar Zimmermann

Huch, das nackte junge Mädchen, das da über mich hinwegblickt, kenne ich doch schon? Nicht die junge Dame selbst, aber eine ihrer Wiedergängerinnen. Am Karfreitag 2010 hatte ich sie in New York getroffen; wie der Gekreuzigte hing sie da mit gespreizten Armen und Beinen in gleißendem Licht völlig unbekleidet an der weißen Wand, und nur ein schmaler Fahrradsattel stabilisierte ihre Position. Es war anlässlich der beeindruckenden Marina-Abramovic-Retrospektive im Museum of Modern Art, und das Bild grub sich unvergesslich ins Gedächtnis.

Marina Abramovic hat für die spektakuläre „Live Art“ Ausstellung, für die das Museum Folkwang erstmals mit der Ruhrtriennale kooperiert, auf ein Werk aus dem Jahre 1997 zurückgegriffen, und wer das Glück hatte, die New Yorker MoMA-Retrospektive zu sehen, erlebt jetzt in Essen quasi die Retrospektive einer Retrospektive. In der sehr viel kleineren Box in Essen, die vermutlich nur ein weniger starkes Licht verträgt als der große MoMA-Raum, verliert „Luminosity“ ein wenig von seiner Spiritualität und seiner geradezu blasphemischen Wirkung, aber die Verletzlichkeit der Figur, die Qual, die sie erleidet, teilt sich dem Zuschauer auch hier mit. Und auch eine Art … sagen wir: exponierter Isolation. Der Mensch, den wir da anblicken, gehört nicht mehr zu uns, ist herausgehoben aus der Masse, irgendwie schön, irgendwie unnahbar, irgendwie leidend. In New York war das fast ein Altarbild; in Essen, wo die räumliche Distanz zu der Person geringer ist, schien die Wirkung ein wenig banaler.

Marina Abramovic ist so etwas wie die Großmutter der Live Art. Bereits vor 40 Jahren stellte sie in ihren Kunst-Performances lebende Körper aus (damals noch ihren eigenen) und setzte diese unter Inkaufnahme von Gefahr für Leib und Leben den Launen und der Willkür des Publikums aus. Damals war das eine Provokation. Seit einigen Jahren greift eine größere Anzahl von Künstlern verstärkt auf „Live Art“, auf die Schaffung einer Art von Skulpturen oder interaktiven Installationen mit lebenden Objekten zurück. Die Mittel der wüsten Performances aus den 60er, 70er Jahren aber haben sich mittlerweile ihren Weg gebahnt von der Bildenden Kunst über experimentelle Gruppen der Darstellenden Kunst bis ins bürgerliche Stadttheater. Dass Heiner Goebbels, der neue Intendant der Ruhrtriennale, der in seinem diesjährigen Programm nahezu ausschließlich genreübergreifende Produktionen der Darstellenden Künste zeigt, auf die Idee zur Zusammenarbeit mit dem Museum verfiel, erscheint konsequent. Wie aber wirkt die Konfrontation des bürgerlichen Museums- und Theaterpublikums mit lebenden Skulptur-Objekten in der heutigen Zeit? Kann es noch Provokationen geben; gibt es im Gegenteil gar die Gefahr des allzu Gefälligen, Netten?

Nun, anything goes, and anything happens. Zwölf grundverschiedene Künstler bespielen zwölf kleine „Räume“, ziemlich mickerige Boxen, ehrlich gesagt. Manches wirkt eher banal, verfehlt wohl die beabsichtigte Wirkung; anderes haftet noch lange im Gedächtnis. Santiago Serra, auch so ein Provokateur, der das Publikum spaltet, stellt in Essen Kriegsveteranen aus dem Balkan-Krieg, aus Somalia, Afghanistan oder dem Irak in die Ecke seines nahezu quadratischen Raums, mit dem Gesicht zur Wand. Sollen sie sich schämen, werden sie mit Missachtung gestraft für ihre von der Gesellschaft ungeliebten, aber vielleicht heldenhaften Taten, sind auch sie isoliert, nicht mehr integrierbar in die Gesellschaft nach all den schockierenden Erlebnissen, die sie zu verkraften hatten? Wir wissen es nicht, und da die Darsteller normale Alltags-Klamotten tragen, müssen wir uns sogar immer wieder einreden: „Ach ja, das sind Kriegsveteranen … - was will der Künstler uns damit sagen?“ – Die emotionale Wirkung bleibt aus.

Ganz nett geht es im Raum von Roman Ondák zu. Der ist für seine konzeptuellen Spielversuche bekannt – in seinem Essener Raum sitzt einer an einem kleinen Tischchen und hat eine Tauschbörse eröffnet. Die Besucher können bei ihm Objekte aus ihrem Besitz gegen welche von ihrem Vorgänger tauschen. Pillendöschen gegen Schminkspiegel etwa. Wir Männer machen eine erstaunliche Erfahrung: Wir haben nichts zu tauschen; unsere Hosentaschen sind leer. Die Handtaschen der Frauen dagegen offenbaren unermessliche Schätze.

Nebenan muss uns erst einmal eine der Museumswärterinnen aufs Pferd setzen. Da stehen alle um die Eingangstür einer runden Box herum und starren auf zehn junge Menschen, die mit eng miteinander verschränkten Armen den gesamten Durchmesser des Zimmers einnehmen. Einige starren uns feindselig an. „Sie müssen schon reingehen, sonst funktioniert’s nicht“, sagt die Museumsmitarbeiterin. Und kaum sind wir drin, da setzt sich – trapp trapp trapp – der menschliche Riegel in Bewegung, dreht sich um die eigene Achse. Jennifer Allora und Guillermo Calzadilla haben eine „Revolving Door“ erfunden, eine menschliche Drehtür. Und da uns die Jungs und Mädels ziemlich düster anblicken und außerdem auf ihrer Runde den Weg nach draußen versperren, können erstmals auch diejenigen, für die der Gang durch eine Drehtür sonst ganz selbstverständlich und normal ist, das Unwohlsein und die Platzangst sensiblerer Zeitgenossen nachfühlen. Zumal die militärisch zackigen Umdrehungen dieser lebenden Tür wirken wie „ a sort of Leni-Riefenstahl-Tango-Movements“, wie es Adrian Searle vom „Guardian“ unübertrefflich ausdrückt.

So landen wir denn bei den Räumen, in denen die Begegnung mit „Live Art“ uns irgendwie anpiekst, unseren Gemütszustand verändert. Zum Beispiel bei Xavier LeRoy, der in einen stockdunklen Raum eine in tiefschwarzes Fell gehüllte, in sich zusammengesunkene Gestalt platziert hat – ein großes dunkles Kuscheltier? Oder ein düsteres Fabelwesen aus einer archaischen Welt? Verletzlich und schutzsuchend wirkt es – und doch irgendwie unheimlich. Und in meinem Falle gleich wieder banalisiert, denn es erinnerte mich an die Besichtigung eines (gattungsbedingt extrem lichtscheuen) Kiwis in einem neuseeländischen Zoo.

Stärker ist der Effekt schräg gegenüber in dem einzigen Raum, den wir nicht betreten können. Drei, maximal vier Besucher gleichzeitig können sich lang auf den Fußboden des Museums Folkwang legen und durch eine schmale, nur wenige Zentimeter hohe Öffnung das Remake einer Arbeit von Laura Lima aus dem Jahre 1997 mit dem unangenehmen Titel „Men = Flesh, Woman = Flesh – FLAT“ betrachten. Einen flach in einem maximal 50 cm hohen Zimmer liegenden, sprach- und körperbehinderten Menschen mit Down-Syndrom, der uns freundlich anstrahlt. Alle 30 Minuten werde er ausgewechselt, bedeutet er uns – eine unvorstellbar lange Zeit erscheint uns dies unter diesen menschenunwürdigen Bedingungen, aber der Darsteller hat Spaß an seiner Aufgabe. Dennoch denken wir bei LeRoy wie bei Lima an unangenehme Szenen wie die menschliche Monströsitäten-Show auf dem Jahrmarkt bei Ödön von Horváth oder „die Kreatur, wie Gott sie gemacht hat“ im Woyzeck: Menschen und ihre Abnormitäten als Ware. Wir haben den Eindruck, eine Intimsphäre zu verletzen.

Mehr als bei den nackten Damen, die bei Joan Jonas‘ „Mirror Check“ in einer unendlich langsamen Prozedur jeden Quadratzentimeter ihres Körpers mit einem Spiegel untersuchen – es schien interessanterweise der einzige Raum zu sein, in dem der Andrang gelegentlich Zugangsbeschränkungen erforderlich machte: Der Voyeurismus macht auch vor dem mittelalterlichen, wohlerzogenen Museumsbesucher nicht halt, der an den hübschen Frauen seine Freude hat. 1970 dagegen, als dieses Werk erstmals aufgeführt wurde, war es Ausdruck einer provokanten sexuellen Revolution.

Manche Darsteller kommunizieren mit uns: der Mensch mit dem Down-Syndrom, Damien Hirsts Zwillinge, Lucy Ravens die Geräusche des Raumes protokollierender Tonband-Mann. Anderen ist die Kommunikation strikt untersagt, was das kontemplative Moment der Live-Installation verstärkt. Bei Simon Fujiwara quatscht uns ein zierliches junges Mädchen mit unbewegtem Gesichtsausdruck und leiernder Stimme an und verwickelt uns in ein Gespräch – eine in einen Menschen verwandelte Manga-Figur. Nicht alle Besucher gehen so locker mit der Situation um wie die Besucherin, die schmeichelt: „We are back for the third time already, because we like you so much.“ 

Das faszinierendste Live Kunstwerk aber hat der Chinese Xu Zhen in seine Box gestellt. Eine Frau in Alltagskleidung steht mit beiden Füßen auf dem Boden. Vom Knie aufwärts aber schwebt ihr gesamter Körper horizontal flach in der Luft. Unbeweglich liegt die Dame da; ein leises Zittern macht sich gelegentlich bemerkbar; die Augen wirken hochkonzentriert und ein wenig feucht. Wieder und wieder gehen wir um sie herum, beugen uns hinunter, um zu verifizieren, was wir doch auch so sehen: Nichts stützt sie außer ihren Füßen in der Mitte des Raumes. Das ist schlichtweg unmöglich, physikalisch vollkommener Irrsinn: Diese Position kann man nur „In Just A Blink Of An Eye“ einnehmen. Es ist die hochakrobatische Bewegung einer Tänzerin, mitten im Fallen oder in einem rasanten Schwung festgehalten. Die Bewegung eines Kunstturners in einer Bodenübung, gefilmt und mitten im Schwung angehalten. Aber es ist kein Film, es ist kein Tanz. Es ist live, doch der Körper steht in einer Position, die nicht geht. Dieses Kunstwerk ist wahrlich genreübergreifend: Wir sehen Tanz, wir sehen eine Skulptur, und wir erleben unsere Interaktion mit dem Menschen als Kunstwerk. Die Frage, wie das funktioniert, werden wir mit ins Grab nehmen.

Auf dem Heimweg reflektieren wir, was da gerade abgelaufen ist. Wir haben neue Werke gesehen – und manche, die vor Jahren und Jahrzehnten als flüchtige Kunstaktionen nicht dazu gedacht waren, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Heute sehen wir Reenactments mit anderen Personen, perfektioniert und idealisiert, überhöht im Museum. Manche Kunstaktion löste früher Polizeieinsätze aus. Heute diskutieren wir nicht über Provokationen, sondern über Traditionen, in die die Werke sich einreihen. 

Ist dadurch etwas verloren gegangen? Ja, das Blut brodelt nicht mehr in den Adern, der Adrenalinausstoß hält sich in Grenzen. Aber berührt, verändert werden wir in den Begegnungen mit den lebenden menschlichen Kunstwerken immer noch. Die Grenzen der Intimität werden getestet, die gesellschaftliche Konvention im Umgang mit fremden Menschen wird aufgehoben, die psychologische Wirkung der Begegnungen stößt gedankliche Prozesse an. Noch dazu ist es ein unvergessliches Erlebnis.

Foto links: Howard Barlow