Qualität und Quote – ein Theater-Freak sieht fern
„Als ich am Morgen ins Badezimmer trat, zeigte mir mein Spiegelbild etwas Ungeheuerliches: Auf meiner linken Gesichtshälfte befand sich ein exakter Abdruck meiner Fernbedienung“, berichtet Max Goldt in einer mittlerweile 14 Jahre alten Glosse. Er war beim Fernsehen eingeschlafen. Gar mancher von uns elitären Theater-Freaks fragt sich, wie das passieren konnte. Ein Intellektueller, der fernsieht – igitt.
Bereits zum achten Mal richtete die Landesanstalt für Medien NRW vom 27. Februar bis zum 3. März 2013 das Festival Großes Fernsehen aus. „Ab ins Kino: Fernsehen!“ hieß das Motto; im Cinedom Köln waren 19 Vorpremieren der qualitativ besten Fernseh-Events des Jahres zu sehen: Fernsehfilme, Krimis, Serien und Dokumentationen aus aller Welt. Kostenlos übrigens, inklusive einer Tüte Popcorn pro Vorstellung. Zwei Tatorte waren dabei, das Prime-Time-Ostermontags-Programm von ARD und ZDF, natürlich manches vom heimischen WDR, die Pilotfilme englischer, amerikanischer und norwegischer Serien. Starke Stücke, würde man in Mülheim sagen:
Lilyhammer (TNT Serie im Sky Welt Paket)
Wie stark, das zeigte die letzte Vorstellung spätabends am 3. März: Wenn trickreiche und wenig zimperliche Mafia-Methoden auf die vorbildliche politische Correctness und Korruptionsfreiheit skandinavischer Musterstaaten treffen, dann siegt das starke Fernsehen! – Der New Yorker Mafioso Frank Tagliano hat bei der Staatsanwaltschaft gegen seine Bosse ausgesagt und ist seines Lebens nicht mehr sicher. Er wird in ein Zeugenschutzprogramm aufgenommen und wünscht sich als neuen, sicheren place of residence die Stadt Lillehammer – 1994 hat er die Olympischen Spiele im Fernsehen (!) gesehen und fand die halt so schön. Gesagt, getan: Frank zieht um – doch Lillehammer und Giovanni Henriksen, wie er nun heißt, fremdeln ein wenig… - Die Phantasie und der anarchische Humor des Lilyhammer-Teams sowie das großartige Spiel des ehemaligen Gitarristen von Bruce Springsteen Steven Van Zandt als Ex-Mafioso Tagliano sind unübertrefflich; hinreißend komödiantisch und dabei hochintelligent werden die stets so bierernst abgehandelten Themen von Cultural Clashes, Migrationspolitik, Integrationsprogrammen, aber auch dekadenter Überregulierung mancher Lebensbereiche aufs Korn genommen. In Norwegen erreichte die Erstausstrahlung der acht Folgen umfassenden ersten Serien-Staffel eine Quote von durchschnittlich 20 Prozent - nicht der am Abend fernsehenden Couch Potatoes, sondern der Gesamtbevölkerung zwischen 0 und 100 Jahren! Erstausstrahlung in Deutschland ab 7. April sonntags um 22:00 h (Wdh. mittwochs um 20:15 h) auf TNT Serie, zu empfangen über das „Sky Welt“ Paket. Arte und ORF haben sich inzwischen ebenfalls die Rechte gesichert; ein Termin für die Ausstrahlung auf diesen Sendern steht noch nicht fest.
Mrs. Biggs (ITV)
Lilyhammer war der Höhepunkt in der kleinen Reihe von fünf Serien resp. Filmen, anhand derer sich der Schreiber dieser Zeilen einen Überblick über das Festival zu verschaffen suchte. Die norwegisch-US-amerikanische Koproduktion war den beiden ITV-Produktionen an Fantasie und Innovationskraft überlegen; weder Mrs. Biggs noch Mr. Selfridge (beide im UK höchst erfolgreich gelaufen) haben bisher Käufer am deutschsprachigen Fernsehmarkt gefunden. Mrs. Biggs erzählt die Geschichte des legendären Überfalls auf den Postzug von Glasgow nach London vom 8. August 1963 aus Sicht der ersten Ehefrau des Posträubers Ronald Biggs, die heute in Australien lebt und mit dem Autor Jeff Pope intensiv bei der Erstellung des Plots zusammengearbeitet hat. Es ist der andere Blickwinkel auf die bekannte Geschichte der „Great Train Robbery“, der interessiert; der durchaus unterhaltsame erste Teil hat allerdings noch reichlich viel vom pilcheresken Familiendrama. Da gibt es ein wenig Bonnie & Clyde Atmosphäre, ein bisschen „Upstairs, Downstairs“ -Problematik sowie einen höchst charmanten, schauspielerisch überzeugenden Daniel Mays als Ronald Biggs, der zumindest im Pilotfilm einen zwar ein wenig ungeschliffenen, aber witzigen und intelligenten Womanizer gibt. Echte Spannung kommt erst zum „Cliffhanger“-Ende des in Köln gezeigten ersten Teils der Serie auf; in Rezensionen der auf ITV bereits gelaufenen gesamten Serie kann man nachlesen, dass die zu Beginn ein wenig sanft und seicht anmutende Atmosphäre sich deutlich zuspitzen wird und Härte und Tragik in das Format einziehen werden. Bis zum Beweis des Gegenteils sagt der Theaterkritiker: ordentliches Boulevard-Fernsehen.
Mr. Selfridge (ITV)
Mr. Selfridge, ebenfalls ein Beitrag des kommerziellen britischen Senders ITV, erzählt die Geschichte vom Aufbau des berühmten Kaufhaus-Imperiums. Der Pilotfilm entfaltet von Beginn an deutlich mehr Schwung als Mrs. Biggs und erzählt seine Geschichte temporeich, unterhaltsam und mit wohlwollender Ironie. Mehr noch als Mrs. Biggs setzt die Produktion auf das typisch britische „Upstairs, Downstairs“ Motiv, vor allem aber spiegelt sie den kulturellen Umbruch im Lebensstil, im Denken und im (wirtschaftlichen) Handeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts in England wider. Der Film leidet unter dem völligen Mangel an Authentizität des Selfridge-Darstellers Jeremy Piven: seine übertriebene, ausladende Gestik, die Schmierigkeit seiner Komplimente, der unglaubwürdige, überzogene Enthusiasmus, den er noch bei den unüberwindlichsten Hindernissen zeigt, sind ein Ärgernis in dem ansonsten schauspielerisch soliden bis überzeugenden Werk. Pivens Selfridge erinnert in seiner Rhetorik an die Wahlkampfreden von Barack Obama, aber was beim amerikanischen Präsidentschaftskandidaten und heutigen Präsidenten als authentische Botschaft eines fest an die Notwendigkeit von „Change“ glaubenden Erneuerers überzeugte, wirkt bei Piven unseriös, aufgesetzt und suspekt. Sein Kaufhauskönig ist genau der Typ Gebrauchtwagenverkäufer, dem wir garantiert kein Auto abkaufen würden. – Dass es zudem bei einem so umstürzlerischen Projekt wie der vollständigen Umstellung der Einzelhandelsphilosophie vom verkäuferdominierten kleinen Inhabergeschäft zum riesigen, an Kundenbedürfnissen orientierten und neue Kundenbedürfnisse weckenden Department Store keinerlei Selbstzweifel und Rückschritte gegeben haben soll, macht den Film nicht unbedingt glaubwürdiger. – Ob die Serie tatsächlich, wie von den Machern selbstbewusst behautet, mit Downton Abbey zu vergleichen ist, müssen weitere Folgen erst noch beweisen – Zweifel sind angebracht.
Ein weites Herz (ZDF)
Nun sind Mrs. Biggs und Mr. Selfridge ITV-Produkte; sie müssen daher zwangsläufig Kompromisse zur Erzielung einer hohen Quote beim Massenpublikum eingehen. Gottlob nicht immer, aber leider sehr häufig müssen auch ARD und ZDF darauf Rücksicht nehmen. Das Dilemma des Qualitätsfernsehens, gleichzeitig auf Anspruch und Quote schielen zu müssen, ist auch bei der meistbeworbenen Produktion des Festivals und offiziellen Eröffnungsveranstaltung zu beobachten, aber Ein weites Herz löst das Problem geschickter. Gezeigt wird die wahre Geschichte der Isa Vermehren, einer Tochter aus gutbürgerlichem protestantischem Elternhaus, die bis in die Nazi-Jahre in einem kritischen politischen Kabarett auftrat, beeinflusst durch eine tiefgläubige Freundin noch vor dem Krieg zum katholischen Glauben konvertierte, mit ihrer gesamten Familie in Sippenhaft genommen wurde, als ihr Bruder nach England überlief, das KZ überlebte, als Nonne in den Orden Sacré Cœur eintrat und im Jahre 2009 im Alter von 91 Jahren starb. Mehr als die Frage nach der Kraft des Glaubens steht im Film das Familiendrama im Vordergrund; im zweiten Teil gesellt sich immer stärker der zunächst nur angedeutete Topos des Widerstands im Dritten Reich hinzu. Exemplarisch wolle man zeigen, dass nicht nur Angehörige von Minderheiten oder explizite Widerstandskämpfer der Verfolgung durch das Nazi-Regime ausgesetzt waren, sondern dass auch ganz normale deutsche Familien ohne besonderes politisches Engagement in diese Gefahr geraten konnten, betont das Produktionsteam.
Der Film ist opulent gemacht mit reichen, bis ins Detail sorgfältig designten Bildern und fantastischen Schauspielern. Grandios spielt Nadja Uhl die Rolle der Isa Vermehren: Sie wäre eine großartige Theaterschauspielerin mit ihrer exzellent gesteuerten, variantenreichen Mimik, die sie stets minimal übertrieben einsetzt, so dass man sie noch in Parkett-Reihe 15 wahrnehmen könnte. Ihr Gesicht spiegelt gleichzeitig mehrere Emotionen: Furcht und Mut, Liebe und Tadel, Harmoniebedürftigkeit und Widerstand – sie ist das Ereignis dieses Films, der bis in kleinste Nebenrollen exzellent besetzt ist und in dem auch Alexander Khuon als Isas Bruder Michael oder in kleinen, aber wichtigen Nebenrollen Hedi Kriegeskotte und Thomas Thieme brillieren. Dennoch, auch dieser Film, der am Ostermontag um 20:15 h im ZDF ausgestrahlt wird, schielt nach der Quote: Da wird vor allem zu Beginn überdeutlich erzählt, damit auch der weniger anspruchsvolle Kost gewöhnte Zuschauer mitkommt; eine sehr konventionelle Schnitttechnik verleiht dem Film die Harmonie und Ruhe, die auch betagte Senioren mitnimmt; und da ist Nadja Uhl in den reichlich ästhetisierten KZ-Szenen dezent geschminkt und akzeptabel gekleidet, damit auch die Zartbesaiteten nicht abschalten. Dennoch: Wir sehen ein gelungenes Werk wie aus einem Guss, das in der zweiten Hälfte an Schärfe gewinnt und dann auch den intellektuellen Zuschauer berührt und mitnimmt auf die faszinierende Lebensreise einer starken Frau.
Hannah Mangold und Lucy Palm – Tod im Wald (SAT.1)
So, nachdem sich der arrogante Theater-Enthusiast nun ausreichend über die beim Fernsehen notwendigen Zugeständnisse an den Massengeschmack mokiert hat, nun noch ein paar Sätze zu dem einzigen Werk, das von SAT.1 präsentiert wurde, einem nun wahrlich plebejischen Sender. Man fasst es kaum: Es ist die vielleicht mutigste Produktion unter den willkürlich ausgewählten fünf – ein Film, der polarisieren wird und schon beim Sender polarisiert hat. Hannah Mangold und Lucy Palm ist die neue Krimi-Reihe von SAT.1 – und der Pilotfilm floppte. Unsinn: er enthusiasmierte weite Teile der Presse, wurde gar für den 3sat-Zuschauerpreis und den Deutschen FernsehKrimi-Preis nominiert, erreichte aber nur eine für einen Privatsender kaum akzeptable Quote. Und der SAT.1 Geschäftsführer Joachim Kosack, der das Unternehmen zwischenzeitlich leider verlassen hat, entschied: Weitermachen.
Die Hannah-Mangold-Reihe soll sich in jeder Hinsicht von den üblichen Fernsehkrimi-Formaten absetzen. Die hoffentlich in lockerer Folge weiterhin Bestand habende Serie wird, wie das Produktions-Team am Rande des Festivals berichtete, sich in jeder Folge an anderen Vorbildern orientieren. War Folge 1 (Wiederholung am 25. März 2013) eine skurrile Komödie mit viel schwarzem Humor, so nimmt die voraussichtlich im Herbst 2013 ausgestrahlte 2. Folge („Tod im Wald“) Anleihen am Horrorfilm- und Thriller-Genre, aber auch an manchem bösen Märchen – Motive aus Allerleirauh oder aus Rotkäppchen und der böse Wolf werden erkennbar; von fern wehen Erinnerungen an die amerikanische Mystery-Serie Grimm heran. Die Ästhetik des Films ist vor allem zu Beginn durchaus privatsenderkompatibel: harte, schnelle Schnitte, lautstarke, bisweilen nervende Auseinandersetzungen, ein vergleichsweise hohes Maß an Brutalität. Mit zunehmender Dauer faszinieren aber die skurrilen Drehorte und Figuren, die abgedrehten Ermittler-Typen (Britta Hammelstein zur leitenden Ermittlerin in einer Krimiserie zu machen – da muss man erst mal drauf kommen!) und die sichere Handhabung der eigentlich krimiuntypischen Motive. – Für Teil 3 soll bereit ein Skript vorliegen – Chapeau, Monsieur Kosack!
So haben wir denn ein wunderbar vielfältiges, interessantes Wochenende mit – bei aller geäußerten Kritik – großem Qualitätsfernsehen erlebt. Das Fernsehen ist halt gut, man muss nur die Fernbedienung zu benutzen wissen – sonst schläft man eben drauf ein. In Köln hat das Fernsehen wieder einmal seine Vielseitigkeit bewiesen – und letztlich seine im Vergleich zum Theater deutlich höhere Finanzkraft, die solche opulenten Produktionen möglich macht. Ganz nebenbei habe ich mich erneut in Lillehammer verliebt. Da habe ich vor zehn Jahren ein paar verregnete Sommertage verbracht. Wegen der Olympischen Spiele 1994 – die fand ich damals so schön. Frank, why don’t you give me your phone number? - Dietmar Zimmermann