Übrigens …

Die Breite an der Spitze ist dichter geworden

von Dietmar Zimmermann

„Die Breite an der Spitze ist dichter geworden“, wusste einst, dank solcher Weisheiten selbst zum Dichter geworden, der große kleine Berti Vogts. Er wusste auch, dass ein frühes Tor dem Spiel meist gut tut und der Mannschaft ebenso wie der Stimmung auf den Rängen Auftrieb gibt. Wieso solche Fußballer-Sprüche auch für Theaterfestivals gelten, bleibt dem Kunstfreund unergründlich, aber es ist wie es ist: Auch beim Wettbewerb um den Mülheimer Dramatikerpreis 2013 war das Gedrängel an der Spitze dichter als je zuvor, so dass bis zum Schluss fünf oder sechs der konkurrierenden Teams eine Championship-Chance hatten; und traumhafte Spielzüge gleich in den ersten 85 Minuten schufen eine Euphorie, die den mitfiebernden Fan am Rande der Mülheimer Spielfelder über die gesamten achtzehneinhalb Stunden Spieldauer der acht dramatischen Begegnungen trug. Zuzüglich anschließender Spielanalyse bei Kartoffelsalat, Gerhard Jörder und Flaschenbier.

Marianna Salzmann, die gleich den ersten Angriff souverän verwandelte, räumte für ihr Drei-Generationen-Drama Muttersprache Mameloschn den Zuschauerpreis ab. Der bringt ihr kein Geld, denn er ist undotiert, und den Hauptpreis kriegte sie nicht - die Jury war der Auffassung, dass es sich eher um ein Abstauber-Tor gehandelt habe, das der herausragenden Vorbereitung im zentralen Mittelfeld zu verdanken war: den drei grandiosen Schauspielerinnen vom Deutschen Theater Berlin nämlich. Gabriele Heinz als im jüdischen Glauben verwurzelte Großmutter, überzeugte Ex-Kommunistin und frühe DDR-Aktivistin sowie Anita Vulesica als mit beiden Beinen im Leben stehende Tochter, eine pragmatische Bundesbürgerin, die mit Politik und Religion nichts am Hut hat, gaben eine souveräne Vorstellung – und Natalia Belitski als ebenso schnuckelige wie selbstbewusste Enkelin auf der Suche nach ihren Wurzeln und ihrer (auch sexuellen) Identität mochte man als Zuschauer am liebsten einpacken und mitnehmen. Marianna Salzmann hat ein packendes Stück geschrieben, das sich auf komödiantische Art und Weise, aber auch mit viel Tiefgang mit einem reichen Strauß verschiedenster Themen beschäftigt – dem unterschiedlichen Umgang dreier Generationen in Deutschland mit ihrem jüdischen Glauben, mit innerfamiliären Konflikten im generationenübergreifenden Drei-Mädel-Haus, mit unterschiedlichen moralischen und politischen, auch gesellschaftspolitischen Kategorien, mit Verdrängungsmechanismen und Ideologien. Hochprofessionell, ungeheuer sympathisch. Es hagelte nur so Zuschauervoten mit Bestnoten in die Wahlurnen; in die Endausscheidung zum mit € 15.000,- dotierten Dramatikerpreis kam das Stück dennoch nicht: Das Stück mache keine Interpretationsangebote; anders als Brit Bartkowiak könne man es wahrscheinlich nicht inszenieren, bemängelte die Jury. Kann sein – hinreißend war’s trotzdem.

Den Vorwurf mangelnder Interpretationsalternativen kann man dem Siegerstück in der Hauptkategorie jedenfalls nicht machen. Den Dramatikerpreis erhielt die Schweizerin Katja Brunner für ihren Bühnen-Erstling Von den Beinen zu kurz – eine kleine Sensation, denn Brunner ist mit 22 Jahren die jüngste Autorin, die jemals in der 38jährigen Mülheim-Historie nominiert war. Schon in ihrer allerersten Regieanweisung lässt sie dem Theater jeglichen Handlungsspielraum: Sie bezeichnet ihr Werk als „Stück für vier oder fünf SchauspielerInnen oder 13 Männer in Bademänteln“. Witzig.

 Nicht mehr ganz so witzig, wenn man bedenkt, was unter den Bademänteln vorgeht. Denn das Stück handelt vom Missbrauch der Töchter durch ihre Väter. Und ist nicht witzig, sondern provokant, wenn es in weiten Passagen einem Mädchen seine Stimme gibt, das diesen Missbrauch verteidigt, das ihn gar genießt. Doch dass Brunners Figur die Pädophilie „toll findet“, wie manche Kritiker erstaunt bemerken, ist ein Missverständnis. In einer hochartifiziellen, mal ironischen, mal brutalen, gelegentlich gar poetischen Sprache entwirft die Autorin eine beklemmende Collage aus verschiedenen Perspektiven. Alptraumhafte Szenen, Phantasien über den Tod des Vaters lassen sich als traumatische Verletzungen des Kindes deuten. Juror Tobias Becker vom SPIEGEL streicht die kunstvolle Verknüpfung von phantastischen und realistischen Elementen im Text heraus; Märchenmotive, Träume und Alpträume wechseln sich ab mit brutalem Realismus. Das Stück scheue keine Tabus, sei dabei jedoch niemals reißerisch, stellt Sabina Dhein fest; mit der Beschreibung „skrupellos, aber feinfühlig“, trifft Wiebke Puls, ebenfalls Mitglied der Jury, den Nagel auf den Kopf.

 Das Artifizielle der Sprache nimmt Regisseurin Heike M. Götze in ihrer Inszenierung am Schauspiel Hannover kongenial auf: Auch sie setzt mit maskenhaften Gesichtern, puppenhaften Figuren und Kostümen sowie choreographierten Bewegungen auf Distanz, während das Bühnenbild mit Unmengen von Matratzen (Missbrauch!) und Waschbecken, in denen sich die Figuren immer wieder von ihrer Schuld reinzuwaschen versuchen, eine surreale, beklemmende Welt zeichnet. Diese Distanz in Sprache und Inszenierung ermöglicht es dem Publikum, das aufwühlende Geschehen auszuhalten – Entsetzen stellt sich ein, aber niemals der Wunsch, wegzuhören.

 Das ist ganz anders im zweiten der drei in Mülheim vorgestellten Stücke, die sich mit dem Thema Missbrauch beschäftigen. Franz Xaver Kroetz greift in seinem bereits vor zehn Jahren entstandenen, aber erst Ende der vergangenen Spielzeit uraufgeführten Text Du hast gewackelt. Requiem für ein liebes Kind die kriminellen Vorgänge in der „Tosa-Klause“ in Saarbrücken auf, bei denen ein fünfjähriger Junge durch die gesammelte Thekenmannschaft zu Tode pädophiliert wurde. Er gibt dabei den Tätern eine Stimme, den Tätern, die das Kind vorgeblich geliebt haben, die um die besondere Gunst des Fünfjährigen wetteiferten und enttäuscht sind, als das Kind dies ausnutzt. Und denen unerfüllte Sehnsüchte bleiben, als das Kind tot ist. Diese Perspektivverschiebung ist provokant, aber auch hochspannend und augenöffnend. Auch Kroetz‘ Sprache überrascht positiv; da klebt nicht mehr die gewohnte bayerische Kroetz-Kleie an den Füßen der Figuren, sondern man entdeckt sogar für den Autor untypische poetische Momente in der Diktion. Im Vergleich zu der mit vielfältigen formalen Ebenen experimentierenden Sprache und der multiperspektivischen Betrachtungsweise von Katja Brunner wirkt Kroetz jedoch eindimensional. Juror Tobias Becker bemängelte zudem, dass das Stück eindeutig in den untersten Schichten des Prekariats verortet sei und außer Acht lasse, dass Kindesmissbrauch in gleichem Maße ein Phänomen in der gebildeten Mittelschicht (Kirche, Odenwaldschule, 68er…) ist. Dieses Defizit (wenn man es denn als ein solches betrachten will) wird allerdings durch die überzeugende Inszenierung von Anne Lenk vom Bayerischen Staatsschauspiel aufgehoben, die das Stück von jeglichem Sozialkolorit befreit.

In der sich der Aufführung anschließenden Publikumsdiskussion gab es einen interessanten Konflikt innerhalb des Produktionsteams zu beobachten, der sich in gleicher Form vermutlich auch im „normalen“ Theaterpublikum widerspiegeln dürfte. Die Schilderung all der Monstrositäten und Widerwärtigkeiten erfolgt so geballt und so realistisch, dass auch der keinem fiesen Experiment auf der Bühne abholde Unterzeichner gelegentlich in die Luft guckte und an was anderes zu denken versuchte. Die Schauspielerin Ulrike Willenbacher sprach von einer „schrecklichen Probenzeit“ und ist auch heute noch unsicher, ob es angemessen sei, einen solchen Text zu schreiben und gar zu spielen, während ihr Kollege Gerhard Peilstein die Notwendigkeit solcher auch provozierender Texte hervorhob. Nun, der Text, über den Kroetz seinerzeit sagte „Besser kann ich nicht schreiben“, ist ein betonharter Block, an dem sich der Zuschauer die Zähne ausbeißt. Er hat Qualität, und zweifellos gehörte das Stück zu den sechs, die preiswürdig gewesen wären. Auch so etwas gehört auf die Bühne, und wenn es so herausragend gespielt wird wie von Anne Lenks Schauspieler-Team, an deren Spitze der grandiose Manfred Zapatka genannt werden muss, sollte man auch hingehen. Zartbesaitete allerdings seien gewarnt.

Nicht über Kroetz, sondern über das dritte der „Missbrauchs-Stücke“ des diesjährigen Mülheim-Jahrgangs diskutierte die Jury bis ganz zum Schluss. Der Theater- und Literaturkritiker Jürgen Berger plädierte für Elfriede Jelinek und ihr Sekundär-Drama FaustIn and Out - das Kellerdrama sozusagen. Mülheim-DauergastIn Jelinek, die bereits viermal den Preis gewonnen hat, schließt in ihrer jüngsten Textfläche Assoziationen über das Amstetten-Opfer Elisabeth Fritzl, die 24 Jahre lang in einem eigens konstruierten Raum unterhalb der Wohnung ihres Vaters gefangen gehalten wurde und diesem sieben Kinder gebar, mit der Geschichte von Fausts Gretchen kurz, und sie gibt zwingend vor, dass eine Aufführung nur in Kombination mit einer Inszenierung des Goethe’schen Faust am gleichen Theater erfolgen darf. Dušan David Pa?ízek hat dies in seiner Inszenierung am Schauspielhaus Zürich, die in der kommenden Spielzeit ans Düsseldorfer Schauspielhaus wechselt, auf ebenso radikale wie geniale Art und Weise umgesetzt: Unten im Keller gibt es den ersten Teil von Jelinek, während gleichzeitig im Großen Haus Edgar Selge und Frank Seppeler wie zwei verlorene Beckett-Figuren, aber auch mit lausbubenhaftem Witz Goethes Faust spielen. Nach gut der Hälfte der Aufführung wechselt das Publikum aus dem Keller in die Faust-Aufführung, und nun verschränken sich der Goethe- und der Jelinek-Text. – Auch das ist hochartifiziell, manchmal anstrengend, und ist der Faust auch häufig amüsant, so ist die Keller-Jelinek mächtig düster. Selge und Seppeler spielen sowohl Faust als auch Mephisto und alle anderen Rollen; auch die drei Damen sind nicht auf spezifische Rollen festgelegt. Wenn die Damen aus der Unterwelt die große Bühne entern, wird der Schabernack, den Seppeler und Selge mit dem Goethe-Stück treiben, beendet und auch hier kehrt der Ernst des Lebens ein: Das „Altherrendrama Faust“, so Juror Jürgen Berger, wird erst spannend, wenn die Frau dazu kommt.

Das zur Zeit wenig anstrengungsbereite und kaum experimentierfreudige Düsseldorfer Publikum wird wieder maulen, wenn es im Herbst die Inszenierung vorgesetzt bekommt, denn ohne den Einsatz gewaltiger Mengen von Gehirnschmalz wird man keine Freude an diesem Abend haben. Einer der Juroren konstatierte sogar eine gewisse Überforderung durch den Text. Aber zu verfolgen, wie die Inszenierung die beiden Stücke verzahnt, wie die Geschichten von Fritzls Liesbeth und Fausts Grete sich gegenseitig kommentieren, ist schon großartig. Fulminante schauspielerische Leistungen von allen fünf Akteuren, zuvörderst von Edgar Selge, machen den Abend in hohem Maße sehenswert. Während Kroetz sich auf die Perspektive der Täter konzentriert, schreibt Jelinek ausschließlich aus der Perspektive der Opfer, und natürlich nutzt sie die Gelegenheit, ein paar feministische Anspielungen mit hereinzuschreiben. Kann man machen, hilft aber nicht weiter. Der typisch Jelinek’schen Kalauer sind viele; Zitierfähiges finden wir zuhauf. Aber seien wir ehrlich: Wir haben schon stärkere Jelinek-Texte gesehen..

Drei Jury-Stimmen gab es also für Brunner, eine für Jelinek, und die fünfte? Die kam von Milan Peschel, und sie ging an Nis-Momme Stockmann. Fast hätte Wiebke Puls sich ihm angeschlossen. Die machte den originellen Vorschlag, man solle Stockmanns Stück doch mal in voller Länge spielen. 13 Stunden rechnet man für die ungekürzte Aufführung der 320 Seiten von Tod und Wiederauferstehung der Welt meiner Eltern in mir, aber das wär‘ ja nicht schlimm, meinte Puls, man könne das Stück ja auf einem Marktplatz inszenieren, zum Beispiel als Installation.

Nichts gegen kreative Ideen, aber der Schreiber dieser Zeilen ginge nicht hin. Dieser Text ist nun wirklich eine Überforderung, und vielleicht, so spekulierte einer der Juroren, war er das ja auch für den Dramatiker selbst, der angeblich immer noch schreibt an dem Konvolut über einen Banker, der aussteigt aus dem System und eine ziemlich jämmerliche Ein-Mann-Revolution lostritt. Es sei „eine Expedition zu den Grundlagen unseres Lebens“, meint Judith Gerstenberg, die Dramaturgin der Aufführung vom Schauspiel Hannover, Sabina Dhein lobt den Text als „großen Weltenentwurf“. Stockmann arbeitet mit den unterschiedlichsten formalen Mitteln und springt überraschend humorvoll zwischen den Genres hin und her. Beim Publikum polarisierte der maßlose Abend. Nach der ersten Pause war ein Drittel nach Hause gegangen, der Rest hielt durch, vier Stunden und vierzig Minuten lang. Die Leute, die etwas vom Theater verstehen, hatten ein schwieriges, etwas missratenes Stück in einer hochkreativen Inszenierung (Lars-Ole Walburg) mit großartigen Schauspielern gesehen; die anderen, die wie der Unterzeichner das Theater einfach nicht kapieren, fanden die Schauspieler überfordert und die Inszenierung misslungen, wollten aber an das Potential des Texts glauben. Walburg hat versucht, Stockmann im Stile von Nicolas Stemanns Jelinek-Revuen zu inszenieren, doch standen ihm weder die opulenten Mittel zur Verfügung, die Stemann einsetzen kann, noch ein geeignetes Schauspieler-Team.

Stockmann aber, ein hochintelligentes junges Kerlchen, hat die Hybris gepackt. Er schreibt jetzt Weltendramen, uferlos und ohne jedes Zeitmanagement, und überfordert auch die Geduldigsten im Publikum. Irgendwann dauern die Aufführungen sechs Tage, und auch am siebten Tag wird der Autor nicht ruh’n. Tut mir Leid – über einen Literaturpreis ließe sich diskutieren, aber nicht über einen Theaterpreis.

Letzteren hätte ich nach solch einem Schinken schon lieber Felicia Zeller gegeben. Aufschrei und Buhrufe der Jury – ja, ich bin schon still: Mit fünf Gegenstimmen von fünf möglichen schied das Stück in der Preisverleihungs-Tombola aus. Zu eindimensional, zu realitätsfremd seien die X Freunde, viel holzschnittartiger als Zellers Erfolgsdrama Kaspar Häuser Meer, das im Jahre 2008 den Publikumspreis erhielt. Zudem sei Bettina Bruiniers Inszenierung vom Schauspiel Frankfurt, die am Ende in die Groteske, gar in die Comedy kippt, Verrat an den guten Absichten des Stücks.

Einspruch, Euer Ehren: Was Zeller macht, sind kleine Sprachskulpturen. Dem Volk vom Maul geschaut, ein wenig überspitzt und komödiantisch überarbeitet. Große Literatur ist das nicht, doch verfügt Zeller über eine eigene, unverwechselbare Sprache. Als Sozialkritik ist es ein wenig platt, was die Autorin fabriziert. Wenn sowas Anflüge von Realismus bekommt wie bei Kaspar Häuser Meer, dann treten diese Schwächen zutage und es droht Boulevard-Theater ohne jede Selbstironie. Wenn man aber die Geschichte überdreht wie es Bettina Bruinier getan hat und wie es Zellers tragisch endender Kreativwirtschafts-Workaholics-Farce angemessen erscheint, wird es urkomisch. Dass wir alle gemeint sind, wenn unsere ziellose Hektik im Arbeits- und Familienleben aufgespießt wird, begreifen wir dennoch. Dass Zeller uns lenken und leiten will auf dem Weg in ein besseres Leben – das glauben wir eh nicht (und Zeller bestreitet das auch heftig). Also nehmen wir das Stück doch als das, was es ist: eine Comedy. Und als solche ist es gelungen.

Bleiben die zwei Stücke, deren Nominierung nachzuvollziehen der Schreiber dieser Zeilen die größten Schwierigkeiten hatte. Völlig überflüssig erschien in diesem bunten Strauß starker Stücke Azar Mortazavis Ich wünsch mir eins. Wut sei Motivation ihres Schreibens, „Fremdsein im eigenen Land“ ihr Thema, sagt die deutsche Autorin mit iranischem Vater. Nun, die Wut hat sie unter manchmal durchaus poetischen Formulierungen versteckt. Meist aber ist die Sprache des Stückes so einfach und im Wortschatz so beschränkt wie bei Jon Fosse, nur dass Mortazavi dessen nordisch-kühle Lakonie nicht trifft (und wohl auch nicht anstrebt). Blass wie Mortazavis Sprache bleibt auch Annette Pullens Inszenierung vom Theater Osnabrück. Mortazavis wohl autobiographisch gefärbte Hauptfigur, Immigrantin in zweiter Generation, steckt voller Sehnsüchte, die nicht bedient werden – und ihre Biographie bringt es mit sich, dass diese sich teilweise auch auf das nicht näher definierte arabische Heimatland richten. Sonderlich migrantenspezifisch wirkt Leilas Sehnsucht dennoch nicht. Wie sprach eine Jurorin: „Was dieses Stück sagen will, weiß ich schon. Ich bin umgeben von diesen Menschen mit unbefriedigten Sehnsüchten.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

Dass Mortazavis Stück eingeladen wurde, kann mit einiger Mühe dadurch gerechtfertigt werden, dass es einen anderen, eher emotionalen als intellektuellen Ton anschlägt und damit eine eigene Farbe in den bunten Strauß präsentierter Stücke bringt. Es schmerzt allerdings, dass dafür Dea Loher („Am schwarzen See“) und Ewald Palmetshofer („räuber. schuldengenital“) zu Hause bleiben mussten. Die hätte ich auch lieber gesehen als Moritz Rinkes doch recht boulevardeskes, an Yasmina Reza und Edward Albee erinnerndes „bürgerliches Kammerspiel Wir lieben und wissen nichts. Das turbulente Stück, in dem in anderthalb Stunden Echtzeit gleich zwei brüchige Beziehungen endgültig auseinanderbrechen, ist gut gebaut, vielleicht ein bisschen redselig und schlägt eine Reihe gesellschaftskritischer Themen an. Rinke verweist gern auf den „Doppelton“, der seine Texte auszeichnet: die Gleichzeitigkeit von Komik und Tragik, die Behauptung von Illusionen in desillusionierenden Zusammenhängen. Rinkes brilliante Formulierungsfähigkeiten und die elegant und stilsicher gesetzten Pointen können eine Aufführung des Stückes zu einem äußerst kurzweiligen Vergnügen machen, und der Doppelton lässt einem das Lachen so manches Mal gefrieren, wie wir während der Mülheimer Theatertage erleben konnten – wenn wir den achtzehneinhalb Stunden weitere 105 Minuten hinzufügten und das Gastspiel der Frankfurter Aufführung in Recklinghausen besuchten. Die Inszenierung von Mathias Schönsee vom Theater Bern, die in Mülheim zu sehen war, zeigte all dies nicht. Da man Rinke aber gerne liest, hatte keiner der Juroren etwas gegen das Stück. Preiswürdig fand es auch keiner. Wenn Sie’s irgendwo sehen können, liebe Leserinnen und Leser – nichts wie hin: Man muss ja nicht immer große Literatur gucken. Vergnüglich ist es allemal.

 

So hatte Berti also Recht: Die Breite an der Spitze ist dichter geworden. Der Jahrgang 2013 hatte eine ganz ungeheure Qualität: in der deutschsprachigen Dramatik wie im deutschbeinigen Fußball. Es gilt nämlich, noch zwei Danksagungen loszuwerden: Erstens an die Termin-Disponenten der „Stücke“, die den Tag des Champions League Finales spielfrei hielten. Und zweitens an Gerhard Jörder, der uns zehn Jahre lang als Moderator der Publikumsdiskussionen und der Jury-Diskussion begleitet hat – souverän, geduldig, ausgleichend, mit überraschenden … nun, nicht fußballerischen, sondern eher dem Fechtsport ähnelnden Angriffen in seinen Fragen: Selten, aber erfrischend waren seine Florettstöße. Fast immer war er gut drauf, top vorbereitet und informiert. Und wenn er wie wir alle einmal einen unkonzentrierteren Tag hatte (in 2013 gar nicht!), wurde es auch oft lustig. Aber immer – und das kann man leider nicht von allen Theaterkritikern sagen – spürte man seine bedingungslose Liebe zum Theater. Damit hat er viele von uns Zuschauern angesteckt. Danke, Gerhard Jörder, und alles Gute!