Übrigens …

Vom Mut, das Anderssein zu zeigen

Eine Podiumsdiskussion zum Thema „Theater und Inklusion“ bei den Theatertagen Europäischer Kulturen in Paderborn

Moderation: Norbert Radermacher (Präsident des Bundes Deutscher Amateur-Theater)

Teilnehmer: Sandra Anklam (Dramatherapeutin LWL-Klinik Herten)
Christel Brüning (Theater Götterspeise Bielefeld)
Torsten Brandes (Rudolf-Steiner-Schule Schloss Hamborn Borchen)
Stefan Schliephake (Lebenshilfe Lüneburg-Harburg)

„Inklusion heißt ja nicht: Wir sind alle gleich“, meint Sandra Anklam (Drama-Therapeutin der LWL-Klinik Herten). Jeder habe andere Bedürfnisse oder bestimmte Behinderungen, die man auch zeigen können müsse. Der Fokus, unter dem man den Menschen oder seine Arbeit betrachte, dürfe jedoch nicht auf dem Label der Behinderung liegen. Anklam ist eine der Diskussionsteilnehmerinnen des ThemenTalks „Theater und Inklusion“ anlässlich der Theatertage Europäischer Kulturen in Paderborn. Hierher hat Norbert Radermacher, der Präsident des Bundes Deutscher Amateur-Theater, verschiedene Akteure aus sozialen und künstlerischen Berufen eingeladen, die an der Schnittstelle von Sozialarbeit, Pädagogik und Theaterarbeit tätig sind.

Als Einstieg nimmt er einen Satz der Schülerin Raya Krisch (Rudolf-Steiner-Schule Schloss Hamborn) auf, die von ihren Erfahrungen während des Inklusionsprojektes Der Tod des Tintagiles berichtet hatte, von dem kurz zuvor ein Videoausschnitt gezeigt worden war. Und der besagt: Die Grundlage für alles, was man miteinander tun will, ist, bedingungslos aufeinander zu vertrauen. Vertrauen als Basis jeglicher Theaterarbeit auch jenseits von Inklusion, darauf können sich alle Gäste einigen. Anklam, die über langjährige Erfahrungen als Theaterpädagogin bei soziokulturellen Projekten in Gefängnissen und Psychiatrien verfügt, erzählt von ihrer Erfahrung mit dem Publikum, mit dem bei einer Aufführung etwas geschehe, was ebenfalls mit Vertrauen zu tun habe. Oft wecke das Theater in besonderen Kontexten zunächst ein voyeuristisches Interesse der Zuschauer und Zuschauerinnen, die sehen wollten, was „die denn so machen“, „wie die denn aussehen“ und ob das denn Spaß mache. Wenn es gelinge, dass das Publikum Vertrauen in die künstlerische Qualität bekomme und der voyeuristische Blick auf die Krankheit in den Hintergrund trete, sei auch ein Stück Inklusionsarbeit erfolgreich realisiert. Stefan Schliephake, Sozial- und Theaterpädagoge in der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg, dessen Theatergruppe „Weltenbrecher“ soeben ihr Stück Wo der Pfeffer wächst (siehe hier) gezeigt hat, betont, dass die Basis des Vertrauens darin liegt, dass der Kranke oder Behinderte sich in seiner eigenen Rolle mit seinen Wünschen auf der Bühne zeigen dürfe und darüber ein Stück Würde zurückhole und eigene Fähigkeiten entdecke. Sich gegenseitig in den Fähigkeiten zu ergänzen bzw. Handicaps produktiv in den Arbeitsprozess aufzunehmen, ist auch der Ansatz von Christel Brüning, die im Theater „Götterspeise“ in Bielefeld integrative Projekte durchführt. Gelungen sei eine Inszenierung dann, „wenn am Ende niemand merkt, wer hier verrückt ist und wer nicht.“

Doch wie geht künstlerische Theaterarbeit und sozialer Kontext in der Arbeit mit sogenannten gesellschaftlichen Randgruppen zusammen? Und ist ein Theater, in dem Personen mit psychisch-physischen Handicaps agieren, gesellschaftlich schon normal und auf Augenhöhe mit anderen? - In der Diskussionsrunde geht es keineswegs darum, Unterschiede zu leugnen. Viel eher bestehe, so Brüning, die Einzigartigkeit eines jeden in der Andersartigkeit. Doch diese Andersartigkeit dürfe nicht als Entschuldigung dienen, sich nur auf reine therapeutische oder pädagogische Arbeit mit künstlerischen Mitteln zu reduzieren. Vielmehr gehe es darum, die Kunst, die ästhetische Dimension, zur Prämisse einer sozialpädagogischen Arbeit zu machen.

Radermacher fragt, wie viel Arbeit diese Kunst mache. Von einer halbjährigen Produktionszeit mit wöchentlichen Proben à zwei bis zweieinhalb Stunden über vier bis acht Wochen reine Theaterarbeit an der Rudolf-Steiner-Schule (in den Klassen 8 und 12), über intensive Wochen- und Probenblöcke bis zu einer mehrjährigen Produktionszeit ist alles vertreten. Ein Zitat von Schliephake macht die Dimension seiner Arbeit deutlich: „Für jede Minute auf der Bühne arbeiten wir fünf Stunden.“ – Zu reden wäre an dieser Stelle über die teilweise sehr prekären Verhältnisse, mit denen beispielsweise die Theatergruppe der Lebenshilfe zu kämpfen hat, die jedes Jahr aufs Neue um ihre Existenz bangen muss. – Integrative Strukturen wären zu schaffen, die vor allem ermöglichen, sich Zeit sowohl für den sozialen und pädagogischen als auch für den künstlerischen Prozess zu nehmen.

Torsten Brandes, Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule, hat in dieser Runde eine etwas andere Perspektive: Er ist Pädagoge und arbeitet mit „normalen“ Schülern und Schülerinnen. Ausgehend von der in der Runde erklärten Tatsache, dass Theater das Medium schlechthin ist, in dem nicht über Inklusion gesprochen, sondern Inklusion durchs bloße Tun praktiziert wird, liegt sein Fokus denn auch weniger auf dem Begriff Inklusion. Die Kunst ist sein Ziel. Aber, und hier geht sein Anspruch über den bloß ästhetischen Bereich hinaus, Kunst als Möglichkeit, jemandem eine Stimme zu geben und sich gegen das „Verstummen“ aus Angst in unserer Gesellschaft aufzulehnen. Jedem (s)eine eigene Stimme zu geben, egal ob mit oder ohne Handicap – das ist sein Credo. Sich trauen, sich mit „seinem Namen“ zu zeigen, das sei ein Ziel, meint Brandes, als Radermacher jede(n) Teilnehmer(in) mit seiner letzten Frage konfrontiert, was für jeden einzelnen der nächste Schritt in Richtung Teilhabe sei. Viele kleine durchlässige Projekte, in denen Behinderung nur eine Eigenschaft neben vielen anderen sei; mehr finanzielle Zuwendung; Vertrauen in den Prozess und in die Veränderbarkeit von Strukturen – das sind die anderen Wünsche und Ziele der Teilnehmer. Immer wieder aber müsse eine Mauer des Schweigens und des Ignorierens aufgebrochen werden.
David Lode

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