Als die Butter zerlaufen war
Und dann
löste sich die Spannung, und tosender Applaus brach aus. Es war kurz nach Mitternacht, als die Jury sich auf den diesjährigen Gewinner des mit € 15.000,- dotierten Mülheimer Dramatikerpreises geeinigt hatte. Es war, wenn der Beifall nicht täuscht, unter den beiden verbliebenen Kandidaten dasjenige Stück, das auch die Mehrheit der ausharrenden Festival-Gäste präferierte. In der Jury hatte es zuvor ein Patt gegeben: Unversöhnlich standen sich die beiden Parteien gegenüber; auf högschdem intellektuellem Niveau kämpften Sebastian Rudolph und Eva-Maria Voigtländer auf der einen sowie Stephan Müller und Christian Rakow auf der anderen Seite für ihre jeweiligen Kandidaten. Beide hatten gute Argumente. Christine Wahl hatte zuvor ihre Stimme für Ferdinand Schmalz und sein Drama „am beispiel der butter“ abgegeben. Da die Siegchance der „Butter“ zerlaufen war, musste sie sich neu entscheiden.
Und dann
und dann hob Christine Wahl zu reden an. Sie begründete ausführlich, warum René Polleschs Western-Held „Gasoline Bill“ den Preis unzweifelhaft verdient hätte und entschied sich mit einer brillanten rhetorischen Volte für Wolfram Höll und seinen Text „Und dann“. Da brach der Jubel aus.
Wolfram Höll (Foto links) ist 28 Jahre alt und noch ganz frisch im Verfassen dramatischer Kunstwerke. Für „Und dann“ erhielt er nicht nur seine erste Mülheim-Nominierung; der ungeheuer poetische Text ist nach zwei Koproduktionen mit anderen Autor(inn)en auch sein erstes eigenständiges Theaterstück. Es ist aus der Perspektive eines Kindes aus einem Plattenbau kurz nach der Wende geschrieben und handelt vom Verlust und vom Verschwinden eines Landes und der eigenen Mutter. Es ist zugleich Heimat- und Milieustück, wie die Jurorin Eva-Maria Voigtländer sagt; es beschreibt Geschichte und Gegenwart, und es zeugt von einem bemerkenswerten Einfühlungsvermögen, das sich sowohl in der Handlung als auch in der Sprache äußert. Denn Höll hat kein klassisches Theaterstück geschrieben, sondern ein Meisterwerk experimenteller Lyrik, eine Partitur von höchster Musikalität. Regisseurin Claudia Bauer hat den Text zusätzlich ins Alptraumhafte, aber auch rätselhaft Surreale gekippt und am Schauspiel Leipzig einen hinreißenden Theaterabend geschaffen. – Dass ein derart experimentell anmutendes Stück mit dem mit € 15.000,- dotierten Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet wurde, ist durchaus eine Sensation.
Der Unterzeichner war’s mehr als zufrieden, ist aber in der misslichen Lage, sich in der Endphase der Diskussion nicht auf die eine oder andere Seite schlagen zu können, denn „Gasoline Bill“ war das einzige der sieben nominierten Stücke, das er nicht sehen konnte. René Pollesch hat in dem, wenn ich richtig gezählt habe, 81. Stück seit seinem ersten dramatischen Auftritt am Theater Heidelberg vor 24 Jahren getan, was er immer tut: Er hat eine mehr oder weniger (diesmal: mehr) amüsante und mehr oder weniger (diesmal: gut durchschnittliche) intellektuelle Wort-Diarrhoe auf sein Publikum losgelassen. Wie immer mit seitenweise zitierfähigem Assoziationsmaterial, denn ein Formulierungskünstler ist er allemal. Intellektuelle erfreuen sich diesmal vor allem am Verwursten von Jacques Lacan und Slavoj Žižek, Robert Pfaller und Max Weber; die Vergnügungssüchtigen finden Gefallen an dem vielleicht lustigsten Pollesch aller Zeiten. Da werden Wissenschaft und Popkultur in einen auf höchster Stufe drehenden Mixer geworfen und mitten während des Häcksel-Vorgangs mit großer Schauspielkunst von den Topstars der Münchner Kammerspiele präsentiert. Dass diese dabei ihr höchst eigenes Metier, nämlich Theater und Schauspielkunst, ebenfalls auf unterhaltsamste Weise durch den Kakao ziehen, gehört längst zum Pollesch’schen Standard-Repertoire, allerdings weist die Jury darauf hin, dass Pollesch-Neuling Sandra Hüller sich bei „Gasoline Bill“ eine ganz eigene, bislang im Kosmos des Schreib- und Regiekünstlers nicht vorgekommene Interpretationsweise bewahrt hat. Schade, das hätte ich gern erlebt.
Auch ohne Pollesch konnte man in diesem Jahr in Mülheim mindestens drei herausragende Theaterabende genießen. Das Problem war nur, dass das Festival „Stücke“ heißt: Es soll das beste Theaterstück deutscher Zunge aus den letzten zwölf Monaten prämiert werden. Und da stellte sich in diesem Jahrgang bei gleich drei Stücken die Frage der Nachspielbarkeit. Bei Pollesch möchte man diese Frage tendenziell bejahen, auch wenn der Autor selbst solche Ideen kritisch sieht. Das Stück, das in diesem Jahr den Publikumspreis erhielt, lebt dagegen so sehr von der Authentizität der (Laien-)Darstellerin, dass man sich ein Nachspiel kaum vorstellen kann. „Qualitätskontrolle“ war ohne jeden Zweifel der intensivste, emotional berührendste Abend der Mülheimer Theatertage. Die 39jährige Maria-Cristina Hallwachs, die vor 21 Jahren an der falschen Seite kopfüber in den Swimmingpool sprang und seitdem querschnittsgelähmt ist, erzählt aus ihrem Leben und reflektiert aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln die Frage vom Wert des Lebens, die Frage von Ethik und Moral bei der Entscheidung von Ärzten, werdenden Müttern oder Euthanasie-Anstalten über „Abschalten“ oder „Weiterleben“. Vor uns agiert in einem Hightech-Rollstuhl in einer Mischung aus Spielszenen und Erzählung eine überzeugende Performerin, die nichts als ihren Mund und ihre Augen bewegen kann und eine unbändige Lebenslust ausstrahlt. Hallwachs hat Charisma und Humor und wirkt temperamentvoll und zugewandt. Das ist aufwühlend und berührend – aber ist es auch ein Stück, das für sich stehen kann, ohne die Authentizität der Darstellerin? – Ja, meint Eva-Maria Voigtländer. Auch wenn sie damit eine Mindermeinung vertritt, so ist ihr zuzustimmen, dass Helgard Haug und Daniel Wetzel von Rimini Protokoll Hallwachs’ Text auf eine sehr kunstvolle Weise verdichtet und collagiert haben. Höchst stringent und doch mit einer unterhaltsamen Mischung aus verschiedenen Erzähl-Ebenen beleuchtet Rimini Protokoll den Alltag einer Schwerstbehinderten ebenso wie die ethischen, sozialen, politischen und finanziellen Aspekte des Themas. „Qualitätskontrolle“ zählt zu den wichtigsten Theaterabenden der letzten Jahre.
Das dritte große Theatererlebnis neben „Qualitätskontrolle“ und „Und dann“ war nach Auffassung des Unterzeichners Laura de Wecks und Thom Luzs „Archiv des Unvollständigen“ – erneut ein eher experimenteller Abend, der in gemeinsamer Arbeit der beiden Autoren (Thom Luz führte auch Regie) und des Musikers Mathias Weibel am Staatstheater Oldenburg entstand. Erneut ist die Nachspielbarkeit in Zweifel zu ziehen; zu sehr lebt der Abend vom kongenialen Zusammenspiel von Text, Musik und Ausstattung. De Weck und Luz nennen ihr „Stück“ einen Sprachmusikabend – tatsächlich ist es eine dadaistische, poetische Komposition, ein versponnener, skurriler Theaterabend im Geiste von Christoph Marthaler und Ruedi Häusermann. Moderator Timan Raabke bezeichnete das Stück als „hochkunstvoll“ und „verschlossen“. Tatsächlich konnten manche Zuschauer spontan wenig mit dem Abend anfangen, doch verschlossen ist er keineswegs. Ganz wunderbar fügen sich nach etwa der Hälfte der Spieldauer die vielen skurrilen Kürzest-Szenen zu einer Geschichte mit einem roten Faden zusammen, und spätestens dann stellen wir fest, dass die Poesie und Melancholie des Abends nicht nur l’art pour l’art ist. Es entsteht neben einigen humorvollen Referenzen an eine – naturgemäß unvollständige – Sammlung des Unvollständigen eine leise, poetische Reflexion über die Vergeblichkeit des Versuchs von Charles Ives, eine letzte Symphonie als universelle, alles umfassende Enzyklopädie unserer Welt zu erschaffen. – In der Jury hatte der Abend nicht nur Freunde: Er sei ihr zu verspielt, nicht welthaltig genug und zu wenig Problemstück, bemerkte Eva-Maria Voigtländer, und Stephan Müller ergänzte, als Stück allein biete der Text zu wenig; einen solchen Abend könne man am Theater mit einem guten Dramaturgen jederzeit selbst entwickeln. Hinreißend war’s trotzdem.
Betrachtete der eine oder andere das „Archiv des Unvollständigen“ als verschlossen, so hat Philipp Löhle ein leicht verständliches Unterhaltungsstück geschrieben. So etwas kommt bei einer anspruchsvollen Jury nicht an. Das Publikum aber wählte „Du (Normen)“ auf Platz 3. Wie immer bei Löhle handelt es sich um ein in schwebend leichte Pointen und eine überraschende Story gekleidete Kapitalismuskritik. Löhle bedient sich zunächst eines Tricks, den er schon bei „Das Ding“, seinem bisher besten Stück (gezeigt bei den Mülheimer Theatertagen 2012) angewandt hatte, um erstens Überraschung und zweiten Spannung zu generieren. Fing das brandaktuelle Gegenwartsstück „Das Ding“ mit Fernando Magellans Versuch einer Weltumseglung an, beginnt „Du (Normen)“ sogar beim Urknall. Im Zeitraffer eilen wir durch die Weltgeschichte und landen schließlich auf der Flugzeugtoilette. Dort beginnt das Leben von Normen, der sich mit e, nicht mit a schreibt und bei Löhle wohl, wie es Jury-Mitglied Christine Wahl ausdrückt, „die Modellbiografie eines archetypischen Zeitgenossen“ haben soll, eines Menschen, „der sich völlig systemlogisch verhält.“ Anfangs ein eher linkischer, ungeschickter Loser, entwickelt er sich zu einem Homo Oeconomicus, der versucht, aus jeder Situation den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Dieser Normen wird zum rücksichtslosen Geschäftsmann, der mit durchschaubaren Floskeln auch die Kinderarbeit in Indien als gutes Werk verkauft. Kurze, zunehmend unsympathisch wirkende Episoden aus Normens Leben werden erzählt, aber nicht vertieft, wie Stephan Müller kritisch anmerkt. Regisseurin Katrin Lindner vom Nationaltheater Mannheim nutzt jedoch geschickt die Struktur des Stücks für ein hohes Tempo, das den Abend sehr gut konsumierbar macht – die Kapitalismuskritik tut zwar nicht weh, aber sie wird auch dem einfachsten Gemüt verständlich. Der Unterzeichner mochte den Abend und hat sich gut unterhalten; die überzeugendste Kritik daran kam allerdings von Juror Christian Rakow: In der Realität sei Normens Verhalten keineswegs systemlogisch. Der intelligente heutige Homo Oeconomicus sei auch im Sozialverhalten eigennützig und wisse sich bei Bedarf dem Mainstream anzupassen; Normen aber agiere mit seinem aggressiven Geschäftsgebaren hochriskant. Treffer, versenkt!
Auch Ferdinand Schmalz hat sich unter anderem der Gesellschaftskritik verschrieben und ein skurriles Stück geschrieben über ein österreichisches Tal, dessen Bewohner vollständig vom Wohlergehen der örtlichen Molkerei abhängig sind. Es ist ein Volksstück in der Tradition von Ödön von Horváth, von Werner Schwab (wenn man ihn ohne Fäkalsprache haben könnte), mancher behauptet sogar von Elfriede Jelinek, und es hat großen Sprachwitz und eine allumfassende Metapher: die Butter. Ihn interessiere die Konkretheit der Sprache, sagt Schmalz, in diesem Falle also: „Wo gerinnt Sprache, wo zerfließt sie?“ Und so wird denn „am beispiel der butter“ mit dem Brotaufstrich und all seinen Derivaten herummetaphert, bis dass einem der letzte Buttered Pretzel zum Halse rauskommt. Schmalz verarbeitet in bewusst schiefer Manier Walter Benjamin und Giorgio Agamben, will gesellschaftliche Missstände und dumpfe Gewalt anklagen, wie sie angeblich in finsterster dörflicher Enge noch existieren, und beschwört am Ende die Apokalypse, die sich dann doch als böser Traum herausstellt. Regisseurin Cilli Drexel und die Akteure vom Schauspiel Leipzig, besonders aber der Autor selbst waren offenbar hoch ambitioniert, konnten aber ihre eigenen Ansprüche kaum einlösen. Vielleicht aber haben wir’s nur alle nicht kapiert: Christine Wahl hätte Ferdinand Schmalz gern als Preisträger gesehen.
Bleibt das Stück, das am meisten polarisierte. In der Publikumsdiskussion ging es hoch her, die Jury setzte Rebekka Kricheldorf gemeinsam mit Löhles Klammer-Normen auf den letzten Platz, doch in der Wertung für den Publikumspreis erstrahlte das Stück auf Rang 2. „Alltag und Ekstase“ bot dem Schreiber dieser Zeilen zu viel Alltag und zu viel Ekstase, vor allem zu viel Trash auf Privatfernseh-Niveau. Diese Kritik allerdings ist unzulässig, denn sie bezieht sich vorrangig auf die Inszenierung von Daniela Löffner vom Deutschen Theater Berlin; das Stück ist ganz dezidiert eine Komödie und geht damit beim Unterzeichner mit einem Handicap an den Start. Kricheldorf bezeichnet es selbst als das „Freiburg-Stück“: In der Tat passt es optimal in das waldorfschulenverliebte grünbürgerliche Vauban, wo eine sektiererische Selbstverwirklichungslust in einen Zwang zur Selbstoptimierung umschlägt – nur die letzten sieben Wörter sind nach Christine Wahl zitiert; den Rest nähme sie mir möglicherweise übel. Kricheldorf feuert mit Pointen, Wortwitz und Situationskomik aus allen Rohren und spießt genüsslich die Spleens der verwöhnten Selbstverwirklicher auf. Die bleiben alle Karikaturen, aber das ist halt gewollt, also sollten wir’s Frau Kricheldorf nicht vorwerfen. Das Stück wird sicher häufig nachgespielt werden; es eignet sich blendend für den Boulevard, kann aber auch im Stadt- und Staatstheater intelligent inszeniert werden. Für einen Preis in Mülheim qualifiziert es sich nicht: Namen wollen wir nicht nennen, aber eine(r) der Juror(inn)en sprach mir aus dem Herzen: „Ich weiß, so sind die, aber das interessiert mich nicht.“ - Dietmar Zimmermann