Übrigens …

Tod oder Gladiolen

von Dietmar Zimmermann

Tod oder Gladiolen! Am Eröffnungstag des Asphalt-Festivals 2014 gab es beides. In Jan Fabres weltweit gerühmter Choreografie Preparatio Mortis sowieso. Aber auch für die Organisatoren des Festivals, die für ihr abwechslungsreiches Programm eine neugierig stimmende Vorab-Berichterstattung wie nie zuvor erhielten und dann das gigantische Blumenfeld und die herausragende Performance von Preparatio Mortis für ca. 75 % des Publikums der Unsichtbarkeit anheimfallen ließen. Eine planerische Nachlässigkeit, die zur 2. Aufführung korrigiert wurde.

Die Düsseldorfer Haute Volaute war nur zum Fabre gekommen und sah so gut wie nichts. Wer die Eröffnung des Festivals von 18.30 h - 24.00 h in vollen Zügen mitnahm, fuhr dagegen beschwingt und gut gelaunt nach Hause. 

 

 I möcht Füaß ham zum Renna, an Mund ham zum Schrein: Raoul Brands Tree #2612

 

Es ist halb sieben, und die im Hof versteckten Parkplätze, die früher keiner fand, sind längst voll. Dass die Festival-Organisatoren Christof Seeger-Zurmühlen und Bojan Vuletic Ungewöhnliches im Programm haben, hat sich herumgesprochen. Vor der offiziellen Eröffnungsinszenierung stehen drei Vernissagen an. Gleich die erste klingt furchtbar esoterisch: Eine halbe Stunde lang sollen wir einer alten Kastanie im Park von Hampstead Heath zuhören. Raoul Brand, ein in Düsseldorf geborener, seit vielen Jahren in London lebender Sounddesigner, hat eine Klanginstallation entworfen: Tree #2612. Spärlich sind die visuellen Reize: ein paar kleinformatige Bilder von Ästen und Zweigen des Baumes oder von einem kletternden Arbeiter, zwei kleine hölzerne Baumstümpfe. Tree #2612 ist eine Reminiszenz an eine altersschwache Kastanie innerhalb von blühenden Landschaften, die dem Tod geweiht war, als Brand sie entdeckte. Er installierte hochempfindliche Mikrophone an verschiedenen Körperteilen des Baumes und destillierte aus den dreiwöchigen Aufzeichnungen ein überraschend faszinierendes 30minütiges Hörspiel mit einem dramaturgischen Aufbau, der eines Theaterfestivals würdig ist. Vogelgezwitscher, das leise Wiegen der Zweige im Wind - geradezu plastisch breitet sich eine bunte, freundliche Frühlingslandschaft vor unserem geistigen Auge aus. Die Installation lädt zur Kontemplation ein - viele Besucher lauschen und träumen mit geschlossenen Augen. Verkehrsgeräusche ferner Straßen stören kaum; die Initiative „Bürger gegen Fluglärm“ kann einpacken - lange fällt es schwer, die Geräusche der technischen Revolution rund um den Baum als Bedrohung zu empfinden. Eher schon fabrizieren die Stimmen der Spaziergänger, die von unserer Andacht in der Backfabrik nichts ahnen, oder die Glocken einer nahen Kirche aufgrund der Überempfindlichkeit der Mikrofone ein unangenehmes Weckgeräusch. Immer wieder hören wir ein leichtes Grundrauschen: Es entstammt den Adern des Baumes, durch die täglich mehrere Hundert Liter Wasser fließen.

 

Doch dann ist es mit der Kontemplation vorbei: Äste splittern, Motorsägen dröhnen. Wie am eigenen Leib spüren wir das letzte Aufbäumen der Kastanie, den Todeskampf des Baumes. Als die Säge ihre Tätigkeit für einige Sekunden unterbricht, braust noch einmal das Wasser durch die Adern, schmerzhaft spüren wir das wilde … ja: Aufbäumen eines Lebewesens in seinen letzten Zügen. Raoul Brands Klanginstallation hat die Dramaturgie eines Theaterstücks. Nie zuvor ahnten wir, wie kurzweilig es sein kann, einem Baum zuzuhören.

 

Dagegen fallen die Videobilder von Hofmann&Lindholm, einem Regie- und Autoren-Duo, das aus der (freien) Schauspiel-Szene stammt, dramaturgisch ab, wiewohl auch sie von eigenartigem Reiz sind.  Laiendarsteller werden - oftmals in zeitlupenartigen Bildern - an Originalschauplätzen so lange dirigiert, bis sie mit den Bildern der Zeitgeschichte übereinstimmen, die sich wie Ikonen der Bilddokumentation in unser Gedächtnis eingegraben haben: Ackermanns Siegeszeichen, Brandts Kniefall, das Interview der Gladbecker Geiselgangster durch Journalisten in der Kölner Füßgängerzone, Wolf Biermanns erstes Konzert im Westen nach elf Jahren Auftrittsverbot in der DDR und vieles andere mehr. Das hat Witz, das spielt mit unserem Erinnerungsvermögen, mit den Bildern in unserem Kopf - aber es hat nicht die Spannung von Tree #2612.

 

 Der Tod bringt eine neue Sicht auf das Leben: Jan Fabres Preparatio Mortis

 

Nachdem wir in der Backfabrik dem Baum beim Sterben zugehört haben, wandern wir hinüber in die Alten Farbwerke,  um der französischen Tänzerin und Performerin Annabelle Chambon beim Sterben zuzusehen. Langjährige NRW-Theaterfreaks und Besucher der Salzburger Festspiele erinnern sich an das „Requiem für eine Metamorphose“, Jan Fabres nicht nur gigantische, sondern fast schon gigantomanische Koproduktion mit Salzburg und der Ruhrtriennale im Jahre 2007. Zehntausende von Blumen hatten auf ca. 100 m Länge die Bühne der Jahrhunderthalle in Bochum bedeckt. Betörend der Duft, erlesen die Bilder, ein wenig kitschig die Texte - so war das damals. Und die menschlichen Schmetterlinge waren zum Fremdschämen. Jetzt, bei Preparatio Mortis, das ein wenig wirkt wie eine Miniaturfassung der „Metamorphose“, sind die Schmetterlinge echt - im zweiten Teil der Aufführung werden wir sie sehen in einer Art Lade hinter der milchigen Fassade eines gläsernen Sarges. Die kurzlebigen Schmetterlinge, die nur kraft ihres vorangegangenen langen Raupen-Daseins wenige Tage überleben können, sind bei Fabre stets eine Metapher für den Tod.

 

Erneut bedecken 5 000 frische Schnittblumen - Gladiolen, Chrysanthemen, Schleierkraut und Gerbera - den Boden und den in der Mitte der Bühne stehenden Sarg. Zu Bernard Foccroulles Toccata, aufgenommen auf der Orgel der Kathedrale zu Brüssel im Jahre 2001, schälen sich die Konturen des Bühnenbildes in unendlicher Langsamkeit aus der Dunkelheit heraus. Ebenso langsam erhebt sich die vollkommen von Blumen bedeckte Annabelle Chambon von ihrem Grab - es ist eine Art Auferstehung, eine Auferstehung allerdings nur, um im Moment des Todes oder der Erlösung der Seele noch einmal die intensiven Genüsse des Lebens zu rekapitulieren. Wie unter Hypnose werden die Bewegungen der Tänzerin zunächst anmutiger, harmonischer, lebendiger, doch schnell gehen sie in das Zucken und Zittern eines Todeskampfes über, der zu den fröhlichen Farben der Blumen  und der andächtigen, kontemplativen Heiligkeit von Foccroulles Orgelmusik, die fast die gesamte Dauer der Performance begleitet, im Kontrast stehen. Der Sarg, der im Zuge dieses Kampfes nach und nach von den Blumen geräumt wird, trägt das individuelle Geburtsdatum der Performerin: 17. Januar 1975 - wir ahnen den Zusammenhang und erschrecken angesichts dieses (konstruierten) autobiographischen Moments. Der Tag der Geburt, so sagt Fabre, ist der Beginn des Sterbeprozesses.   

 

Die Performerin schmeckt noch einmal den Duft der Blumen, den Saft und die Kraft des Lebens. In manchen Zuschauern recht drastisch erscheinenden Bildern erinnert sie die erotische Lust. „Durch den Tod lernen wir einen anderen Blick auf das Leben“, sagt Fabre zu Preparatio Mortis: „Der Tod zwingt uns zu einer intensiveren, vollständigeren Sicht auf das Leben.“ Das hat etwas Tranceartiges, aber in vielen Momenten auch etwas Raues, die Gefühle des Zuschauers Verletzendes. Eleganter, harmonischer wird die Performance erst im zweiten Teil, als Annabelle Chambon im gläsernen Sarg schwimmt, umgeben von Schmetterlingen. Von innen malt sie Motive aus der Grotte von Lascaux an die Glaswände.  

 

Der Kern dieser Choreographie wurde bereits beim Avignon-Festival 2005 uraufgeführt. Damals handelte es sich um eine Art performativer Installation mit einer Gesamtdauer von 15 - 25 Minuten. Später erfolgten diverse Veränderungen, vor allem eine 25minütige Ergänzung im Jahre 2010. Bei aller Virtuosität der choreographischen Bewegungen von Annabelle Chambon bleibt allerdings vorrangig der Eindruck einer - nunmehr zweiteiligen - Installation. Am Düsseldorfer Premierenabend schlichen sich Zweifel ein, ob die Installation über die knapp einstündige Dauer der Performance trägt, doch ließ sich dies von den meisten Besuchern nicht beurteilen. Sie waren zu sehr mit Hälserecken und der Suche nach einem Minimum von Sicht auf die Bühne beschäftigt, um sich auf die künstlerische Wirkung des Abends konzentrieren zu können. Die Festival-Leitung zeigte sich von diesem Missgeschick sehr betroffen und korrigierte die Konstruktion der Zuschauerränge bis zur zweiten Aufführung. Die soll der Sage nach von der Mehrzahl des Publikums heftig akklamiert worden sein …  

    

Mit der Kraft einer Hexe: Mariana Sadovskas Transformation von Volksliedern

 

Wurde so der geplante Höhepunkt des Festivals zumindest am Premierenabend zu einer eher ambivalenten Angelegenheit, so entschädigte das Late Night Concert der in Köln lebenden ukrainischen Sängerin Mariana Sadovska. Die Trägerin des NRW-Weltmusikpreises, die einige Jahre lang am legendären La MaMa Experimental Theatre in New York arbeitete, tingelt durch die ukrainischen Dörfer und lässt sich von den alten Menschen traditionelle, dem Untergang geweihte lokale Volkslieder vorsingen, die sie dann mit Elementen der Weltmusik und Anklängen an Pop und Rock mischt und zu den Klängen eines indischen Harmoniums vorträgt. Alte ukrainische Hochzeitslieder, Gesänge, mit denen nach langem, kaltem Winter der Frühling gerufen wird, alte Wiegenlieder nimmt sie auf, transformiert sie geringfügig in eine modernere musikalische Struktur und trägt sie mit hinreißendem Temperament und ungeheuer variabler Stimme vor. Da kippt das Ätherische von einer Sekunde zur anderen in ein Krächzen und ein Rufen und ein Schreien - immer aber melodisch: und passend zu den humorvollen, mild ironischen Überleitungen, die die Wahl-Kölnerin in perfektem Deutsch spricht. Da gibt es die sadistischen Wiegenlieder - und die erotischen, die davon handeln, was nachher abgeht, wenn die Kleinen endlich schlafen. Da gibt es Klagen und Drohungen, Kokettes und Romantisches - und all das hat Wucht und Atmosphäre, Witz und Temperament. „Jede Frau hat die Kraft von einer Hexe“, sagt Sadovska einmal - sie selbst ist wohl einem ganzen Hexenrudel begegnet. Auch ohne Kenntnisse der ukrainischen oder der russischen Sprache sitzen wir da und lächeln von einem Ohr zum anderen.

 

Im zweiten Teil ihres Konzerts singt Mariana Sadovska auch Lieder in deutscher und englischer Sprache; die ausgebildete klassische Konzertpianistin begleitet sich dabei selbst auf dem Flügel. Unter der Überschrift Odessa Underground widmet sie diese Lieder den Kämpferinnen und Kämpfern für die Unabhängigkeit ihrer ukrainischen Heimat - „und den 10% Russen, die sich immer noch gegen Putins Politik auflehnen.“ In ihren Moderationen lässt sie kurze autobiographische Blitzlichter zu, erzählt von ihrem Vater, der in der Weißen Armee gegen die Bolschewiken kämpfte und es nicht geschafft hat, in den Westen zu kommen. „Und ich?“, fragt sie. „Ich lebe jetzt in Köln, und heute bin ich hier.“ - Wie schön für uns. Mariana Sadovska machte unter dem Glasdach im Hof des Weltkunstzimmers aus einem Regentag eine wunderschöne laue Sommernacht.