Übrigens …

Die Welt ist alles, was der Unfall ist

Ein Rückblick auf das Mülheimer „Stücke“-Festival 2016

Moderator Michael Laages hatte einen Verdacht. Gleich drei der sieben Stücke, die in diesem Jahr für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert waren, hatten erst in den letzten vier Wochen vor Meldeschluss ihre Uraufführung erlebt. Ob denn die Ausbeute der vergangenen zwölf Monate so schwach gewesen sei, dass man kurz vor Toresschluss noch Kompromisse habe machen müssen, um das üblicherweise sieben Stücke umfassende Tableau zu komplettieren? War 2015/16 also ein schwacher Jahrgang? Im Gegenteil, antwortete pflichtgemäß Franz Wille, Chefredakteur der Zeitschrift Theater heute und als Sprecher des Auswahlgremiums Mitglied der Jury. Der Jahrgang sei stark gewesen, allerdings habe sich diese Qualität zu Weihnachten 2015 noch nicht abgezeichnet.

Das war eine sympathische Verneigung vor den Autoren und Autorinnen der sieben eingeladenen Stücke, aber die Wahrheit war es nicht. Keines der Stücke reichte in seiner Qualität an den Sieger des Jahres 2015, Ewald Palmetshofers die unverheiratete, heran. Selbst die Verfolger des Vorjahres, Die lächerliche Finsternis von Wolfram Lotz und Common Ground von Yael Ronen, schienen stärker als jedes einzelne Stück des Jahrgangs 2016. Allerdings gab es in diesem Jahr auch keinen Ausfall: Alle Nominierungen erschienen gerechtfertigt, kein Text ragte heraus. Es schien ein wenig, als habe sich das Auswahlgremium daher an besonders exzellenten Inszenierungen orientiert. Dank der sieben Regisseure war jeder Abend auf seine Weise imponierend.

 

Versteinerte Menschen, polarisierte Zuschauer: Wolfram Hölls Drei sind wir aus Leipzig

 

In einer Hinsicht hatte Wille mit seiner Analyse recht. „Drei sind wir“, krähten die erst nach Weihnachten uraufgeführten Stücke, und zwei davon gehörten zu denjenigen, die bis zum Schluss als preiswürdig diskutiert wurden. Das Stück, das am leisesten krähte, der zarte, poetische Text von Wolfram Höll, erntete die größte Zustimmung der Jury - und seine Inszenierung die lauteste Unmutsäußerung im Publikum. Bei der Regisseurin Thirza Bruncken, die Drei sind wir (siehe hier) am Schauspiel Leipzig herausgebracht hat, gilt es stets, „die Differenz zur eigenen Erwartung zu ertragen“, wie es der Noch-Intendant des Staatsschauspiels Dresden Wilfried Schulz einmal ganz generell von seinen Zuschauern verlangt hat. So war es auch diesmal: Wer nach der Lektüre des Stücks einen lyrischen, melancholischen Abend erwartet hatte, wurde enttäuscht. Wer sich einließ auf die Bruncken’sche Lesart, war erschüttert.

In Hölls Text geht es um eine Familie, der ein an Trisomie 18 leidender Sohn geboren wird. Kinder mit dieser seltenen Chromosomen-Krankheit haben eine Lebenserwartung von wenigen Monaten. Hölls Familie wandert mit entschlossenem Optimismus und behindertem Sohn nach Kanada aus, klammert sich an eine schnell als Lebenslüge enttarnte Hoffnung und erstickt nach und nach an der Aussichtslosigkeit, mit dem Kind ein „normales“ Leben führen zu können. Hölls Stück ist geschrieben wie eine musikalische Partitur. Thirza Bruncken hat dies erkannt und setzt die Vorgaben des Autors konsequent um. Allerdings überführt sie die Lyrik und Melancholie der Partitur in eine andere Tonart. In ihrer Inszenierung, die nicht weniger formbewusst ist als Hölls Text, wird aus dem schwebend leichten, empathischen Blues ein kalter, verzweifelter Beat. Was bei Höll zart und melancholisch ist, wirkt bei Bruncken hart und verkapselt. Versteinerte Menschen in einem klaustrophobischen, freudlosen Bühnenraum versuchen, ihr Alltagsleben weiterzuführen, und scheitern. Jurorin Regina Guhl, Professorin an der Hochschule für Dramaturgie an der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, hat recht mit ihrer Feststellung, dass Bruncken sich in ihrer Inszenierung auf die pathologische Paarkonstruktion konzentriert. Aber das geht keineswegs „am Kern vorbei“, wie die Jurorin kritisiert. Der Text ist „ein Ringen um Worte in einer Familie, die weiß, dass ihr Kind innerhalb eines Jahres sterben wird“, und er „erzählt von einer mühsam gehaltenen Konversationsoberfläche“, wie Franz Wille analysiert. Brunckens Inszenierung tut mehr als das: Sie erzählt auf unerbittliche Weise von der mühsam aufrecht erhaltenen Oberfläche eines familiären Zusammenlebens, von einer Familie, in der die Erwachsenen angesichts von Unglück und Überforderung versteinern und anstelle von gegenseitiger Liebe und Empathie allenfalls noch Automatismen greifen. Und weil man das Ganze auch ganz anders machen kann, weil der Autor die Ko-Autorenschaft der Regie geradezu einfordert, wie Jury-Mitglied Benjamin von Blomberg (Chef-Dramaturg der Münchner Kammerspiele) betonte, erhielt Wolfram Höll zu Recht den Mülheimer Dramatikerpreis des Jahres 2016.

 

Flippige Mütter, altkluge Töchter: Sibylle Bergs Und dann kam Mirna aus Berlin

 

Um ein Haar wäre der Preis an Sibylle Berg gegangen. Regina Guhl und Hubert Spiegel, Feuilleton-Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, plädierten für Bergs pointensatte, hochkomödiantische Abrechnung mit dem Zeitgeist- und Lifestyle-Getue junger Frauen um die 35 – und mit dem Neokonservativismus der Kinder von heute. Und dann kam Mirna (siehe hier) ist eine Fortsetzung von Bergs Es sagt mir nichts, das sogenannte Draußen, das im Jahre 2014 bei der Kritikerumfrage von „Theater heute“ zum deutschsprachigen Stück des Jahres gekürt wurde. Immer noch regt sich in den vier Riot Girls des Vorgänger-Stücks ein Rest von Revoluzzertum und die Sehnsucht nach einer alternativen Lebensform; immer noch verfügen sie über eine maximale Schlagfertigkeit und eine hohe Fähigkeit zur Selbstreflexion. Aber den besseren Spiegel hält ihnen inzwischen Mirna vor – besser: die vier Mirnas, die Früchte künstlicher Insemination oder lustloser (und längst vergangener) Sexualbeziehungen. Flippige Mit-Dreißigerinnen, die ausbrechen aus heteronormativen Beziehungen und eher unwillig die Stadtguerilla mit der Landkommune eintauschen wollen, treffen auf ihre zielstrebigen, altklugen und knochenkonservativen Töchter. Aus dieser Konstellation schlägt Berg 70 Minuten lang atemberaubende Funken – so schnell kommt das Ohr gar nicht mit wie es mit bitterbösen Pointen und akrobatischen Sprachkunststückchen befeuert wird. Das ist Boulevard vom Feinsten – höchst vergnüglich, aber eben Boulevard. Außerdem kommt das Stück zehn bis zwanzig Jahre zu spät: Die alternativen 35jährigen und die hyperehrgeizigen Kinder hatten wir in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Heute dominieren bereits wieder andere Lebensentwürfe. Angesichts der hinreißenden Inszenierung vom Maxim Gorki Theater Berlin, die Sebastian Nübling mit großer Verve in einer temporeichen Mischung aus chorischem Sprechen und individuellen Einwürfen über die Rampe schleudert, ist es nicht überraschend, dass Berg den Zuschauerpreis der Mülheimer Stücke erhielt. Für den Hauptpreis bewegt es sich doch zu sehr im Rahmen des Erwartbaren, wie auch Benjamin von Blomberg in der Jury-Diskussion anmerkte. Den Spielraum für alternative Interpretationen, den Hölls Drei sind wir eröffnet, bietet Mirna nicht.

 

Pädophile Patres, destabilisierte Machos: Thomas Melles Bilder von uns aus Bonn

 

Thomas Melle hat unter den sieben nominierten Preisverdächtigen vordergründig den konventionellsten Text geschrieben. Insofern war es ein wenig überraschend, dass ausgerechnet Franz Wille ursprünglich für den Bonner Dramatiker als diesjährigen Preisträger votierte. Melle thematisiert in seinem Stück Bilder von uns (siehe hier) den Missbrauchs-Skandal am altsprachlichen, von Jesuiten geführten Aloisiuskolleg in Bonn-Bad Godesberg. Er greift jedoch nicht auf die Mittel des Dokumentartheaters zurück, sondern entwickelt eine fiktive Geschichte. Diese allerdings beruht auf einer sorgsamen Fakten-Recherche, einer intensiven Selbstbefragung (Melle war selbst Schüler des Aloisiuskollegs) und vielen Gesprächen mit Bonner Betroffenen und Beteiligten. Hauptfigur Jesko, in leitender Funktion bei einem großen Medienkonzern tätig, erhält auf seinem Mobiltelefon anonym ein Bild zugespielt, das ihn nackt als ca. zwölfjährigen Jungen zeigt. Das wirft den selbstbewussten, erfolgreichen Medienmanager, der die Übergriffe aus der Schulzeit längst verdrängt hat, aus der Bahn. Er beginnt zu reflektieren – und bei seinen Mitschülern zu recherchieren, die allesamt erfolgreich in herausgehobenen Positionen in der Gesellschaft tätig sind. Mit Ausnahmen: Konstantin ist gebrochen, arbeits- und lebensunfähig aufgrund der Erfahrungen, denen er in seiner Schulzeit ausgesetzt war. Und der Erfolgreichste von ihnen sitzt mittlerweile im Knast – wegen Pädophilie. Jede Figur reagiert unterschiedlich auf die Konfrontation mit der eigenen Geschichte. Da gibt es den Verdränger, den wütenden Aufklärer, den Bagatellisierer – und das Opfer.

Melle wertet nicht: Der Zuschauer kann die verschiedenen Wege des Umgangs mit dem Missbrauch nachvollziehen. Er erkennt, wie der Schauspieler Hajo Tuschy in der Publikumsdiskussion anmerkt, „dass auch Aufklärung etwas Übergriffiges haben kann“. Wenn der Autor nach der Aufführung sagt: „Werte sind auf einer solchen Schule auch nur eine Währung“, ist das ein Satz, dem wir noch lange nachschmecken. Alice Buddeberg hat das Stück am Theater Bonn sensibel und konzentriert inszeniert. Im Fokus der Inszenierung stehen die Identitätswerdung junger Menschen in der Schulzeit und die Folgen im Erwachsenen-Leben. Doch Melles vielschichtiger Text geht weit über die Verarbeitung des konkreten Missbrauchs-Skandals hinaus und stößt nach Auffassung von Benjamin von Blomberg „in den Bereich größerer Literatur vor.“ Er „zerlegt ein Menschenbild“, wie Franz Wille sagt, nämlich das brüchige Bild der männlichen Macher-Welt, aus der der Jesko bis zum vollständigen Souveränitätsverlust herausfallen wird und in der Konstantin nie ankommen durfte. Er beschäftigt sich mit Machtmissbrauch und enthält, wenn man ganz visionär weiterdenkt, vielleicht sogar eine Metapher für unsere Gesellschaftsordnung.

 

Zeitgeschichtlicher Bilderbogen, gescheiterte Utopien: Fritz Katers Buch aus Stuttgart

 

Fritz Kater lieferte das ausuferndste, in seinen Ambitionen fast schon größenwahnsinnige Stück. Buch (5 ingredientes de la vida) (siehe hier) schlägt einen großen Bogen von 1966 bis 2013 und verhandelt zeitgeschichtliche und private Utopien. Es dockt damit an Katers qualitativ stärkste Schaffensperiode zu Beginn unseres Jahrhunderts an, als Kater für zeit zu lieben, zeit zu sterben den Mülheimer Dramatikerpreis 2003 bekam. Katers Alter Ego Armin Petras inszeniert es in einer Koproduktion der Münchner Kammerspiele mit dem Schauspiel Stuttgart ebenso spannend und mit ebenso fantastischen Schauspielern wie damals zeit zu lieben oder Fight City. Vineta. Linear ist das alles nicht, was sich da abspielt, verstehen muss man auch nicht alles – aber der Assoziationsrahmen ist grenzenlos, und wer im Theater noch staunen kann, dem gehen Augen, Ohren und Verstand über. Das Stück besteht aus zahlreichen Fragmenten. Der Versuch einer Zusammenfassung muss scheitern, aber Franz Wille hilft auf die Sprünge: Ein zukunftsoptimistischer Naturwissenschaftler wechselt aus den USA in die DDR; seine Kinder erleben die erste Liebe am Badesee und feiern unbeschwerte Partys, während Vater ernüchtert dem Alkohol verfällt. Mit der Wende geht das Land in den Westen, wo in Afrika die ökologische Katastrophe ausbricht, aber – zumindest in Katers Inszenierung - metaphernhaft mit den gleichen Szenen der Raubtierkapitalismus im Radius von ca. 800 Kilometern um den Essener Hauptbahnhof versinnbildlicht wird. Zu guter Letzt verkümmert die Ehe eines international erfolgreichen Utopisten und Installations- und Performance-Künstlers, während – vom Papa kaum beachtet - sein Kind stirbt. Nach knapp vier Stunden Aufführungsdauer sind alle Utopien gescheitert und die Figuren entweder verloren gegangen oder am Boden angekommen. „Es wäre vielleicht nicht nötig gewesen, diese Zutat (die Utopie, Anm. d. Verf.) zu beschreiben, weil es eine falsche Zutat ist“, sagt Petras sarkastisch in einem im Programmheft abgedruckten Interview zu dem in diesem Stück wohl zentralen ingrediente de la vida …   

Mindestens bis zur Pause besticht de Inszenierung durch eine großartige szenische Fantasie und die Vielfalt der eingesetzten Theatermittel. Da gibt es Film und Choreographie, Dia-Shows und Live Musik, tolle Wortspiele, karge Dialoge und überbordendes Temperament, Melancholie, Einfühlungsvermögen und Humor. Ikonographische Bilder vom Weltgeschehen zwischen 1966 und 2013 ließen sich auch als Fernseh-Quiz nutzen: Wer erkennt die meisten Szenen? Viele davon haben symbolhafte Bedeutung für die Inszenierung. Wie zum Beispiel die Concorde: Mit Überschallgeschwindigkeit geht die sozialistische Utopie der DDR im westlichen Kapitalismus auf. Literarisch ist das Stück höchst abwechslungsreich gestrickt: Parabelhafte Szenen und Märchen wechseln ab mit Szenen wie aus gut gelaunten Ferienfilmen, dann wieder folgen Dialoge voller Depression und Ausweglosigkeit. Der Rhythmus, die Länge der Szenen passt, immer wieder gibt es kurze Umbaupausen, in denen der Zuschauer sich neue Plätze suchen muss und damit neue Perspektiven gewinnt. Nach der Pause verliert der Abend an Spannung: Ein Künstler und seine ferne, auch auf der Bühne in maximaler Entfernung von ihm platzierte Ehefrau führen in eher statischem Spiel den Zerfall ihrer Ehe und ihrer Utopien vor. Fairerweise sei gesagt, dass manche Zuschauer gerade diese, linearer daherkommende Phase der Aufführung als besonders berührend empfanden.

 

Untote Autobahnhexen, sprachmächtige LKW-Fahrer: Ferdinand Schmalz‘ Dosenfleisch aus Wien

 

Betrübt musste der Schreiber dieser Zeilen zur Kenntnis nehmen, dass der neue Text von Ferdinand Schmalz es nicht in die Endausscheidung der vier Halbfinalisten schaffte. Dabei hat er ähnliche Qualitäten wie der von Wolfram Höll, auch wenn seine Lyrik ganz anders daherkommt. Auch dosenfleisch (siehe hier) ist sprachexperimentell, stark rhythmisiert und mehr noch als das Siegerstück voller Wortspiele. Dabei schreckt Schmalz nicht vor Kalauern, Trash und Splatter zurück: Schließlich spielt seine vordergründig an einer Autobahn-Raststätte angesiedelte Geschichte an einem Tummelplatz für Zombies, einem Übergangsort auf dem Weg zur Hölle. Dort hausen die Raststätten-Pächterin Beate und die Schauspielerin Jayne, die nach einem Unfall „die strenge form verloren“ hat und nun nur noch ein „totalschaden“ ist. Beate und Jayne, in Carina Riedls Inszenierung vom Burgtheater Wien von Dorothea Hartinger und Frida-Lovisa Hamann virtuos gespielt, sind zwei rothaarige Hexen, aber auch zwei Kassandras: Sie sehen Unfälle voraus, die sie wohl vorsätzlich herbeiführen - eine Zwei-Personen-Anti-Autobahn-Bewegung, aber auch ein Erlösungskommando, das den Motoristen eine existenzielle Erfahrung verschaffen und ihnen den Beginn eines neuen Lebens ermöglichen will. Ob im Diesseits oder im Jenseits, weiß man nicht so genau... - Der von Daniel Jesch gespielte LKW-Fahrer nutzt seine Metamorphose zu einem makabren, aber sprachmächtigen Gedicht über das Zerplatzen der Falter an der Windschutzscheibe, den einsetzenden „fleischnebel“ und das „meer aus dosenfleisch“, das sich aus dem verunfallten Lastkraftwagen ergießt. Dosenfleisch ist nicht nur Konserve: das sind wir alle, die wir in unseren Blechkisten über die Autobahnen rasen, und das ist im Militärjargon der Ausdruck für die tiefgefrorenen Leichen, die eingesetzt werden, um mit ihnen Unfälle vorzutäuschen.

„Die Welt ist alles, was der Unfall ist“, kalauert Schmalz einmal frei nach Wittgenstein. Schmalz blickt in seinem Stück auf eine postapokalyptische Welt, auf die Zeit nach dem ganz großen Unfall. Und er blickt maliziös auf die kleinen Zombies und Vampire unseres Alltagslebens. Das Stück steckt voller verschiedener Bedeutungsebenen, es lässt der Regie breite Interpretationsspielräume. Das Wiener Team hat die glückhafte Entscheidung getroffen, die Percussionistin Katharina Ernst ins Zentrum der Bühne zu platzieren, die die Struktur der Sprache kongenial aufnimmt und das Stück mit dem treibenden Beat von Arthur Fussy veredelt. Die großartigen Schauspieler entdecken eine ironische Variante von Kraftwerks „Autobahn“, eine Hardrock-Version von Wolfram Höll und vor allem ganz viel Palmetshofer im Text – und doch ist Ferdinand Schmalz ein ganz eigenständiges, höchst innovatives Stück Literatur voller morbidem Humor gelungen.

 

Vergnügliche Sprachspiele, beklemmender Text: Felicia Zellers Zweite Allgemeine Verunsicherung aus Frankfurt

 

In einer postapokalyptischen Situation befinden sich auch die Figuren von Felicia Zellers aktuellem Stück Zweite Allgemeine Verunsicherung (siehe hier). Die Apokalypse resultiert aus der Midlife Crisis junger und nicht mehr ganz so junger Prominenter. Der rote Teppich, über den die Teilnehmer einer Filmpreis-Verleihung gehen sollen, ist in der Inszenierung von Johanna Wehner vom Schauspiel Frankfurt weitgehend verschwunden, der Kronleuchter hängt schief von der Decke. Wir hören den Lärm einer Explosion und sehen ein Bild der Zerstörung. Langsam wühlt sich die Hand von Till Weinheimer aus dem Schutt: „Ich lebe in der Hölle. Die Hölle ist eine Wiederholung.“

Mais l‘enfer, c’est eux-mêmes. Johanna Wehner und ihr Bühnenbildner Volker Hintermeier haben am Schauspiel Frankfurt zwar sehr effekt- und fantasievoll eine reale Hölle visualisiert, in der am Ende gar der Moderator in den Flammen brutzeln soll und der Filmpreis explodiert. Das Fegefeuer aber ist sehr diesseitig und vor allem selbstgemacht. Es ist die typische Krise außengeleiteter Personen, und Zeller beschreibt sie anhand einer prominenten Schauspielerin, einer Amok laufenden Vortragsreisenden und einer Regisseurin. Die Menschen kämpfen mit der eigenen inneren Hölle, der eigenen Verunsicherung und dem ständigen Versuch einer Bestimmung von Selbst- und Frendbild. Ihr Text sei „ein Festival des Selbstmitleids“, ein Stück der „Verzweiflung über die Verzweiflung“ und „ein Text der Krise und der Krise wegen der eigenen Krise“, hat Zeller in einem Interview mit „Theater heute“ gesagt – irgendwie Meta also. Zeller verankert diese Krisen in der Lebensmitte, exemplifiziert an einer „46,5jährigen Frau“. Doch was Zeller anhand der Midlife Crisis von Promis aufzeigt, gilt auch für Otto oder Lisa Normalbürger jeden Alters: Das Fremdbild bestimmt die Gedanken und das Handeln. Was Zeller anhand von besonders im Fokus der Öffentlichkeit stehenden Kunstschaffenden demonstriert, finden wir auch bei Menschen in der Schule, in der Disko, am Arbeitsplatz. Und nicht erst in der Midlife Crisis.

Zeller hat wieder einmal ein höchst vergnügliches Stück in der für die Autorin typischen ulkigen, urkomischen Sprache mit ihren abgehackten Alltagssätzen und permanenten Wiederholungsschleifen vorgelegt. Aber die Autorin ist diesmal einen Schritt weiter gegangen: Die Zweite Allgemeine Verunsicherung hat, wie Regina Guhl bemerkt, im Gegensatz zu ihren vorhergehenden Stücken etwas Beklemmendes. Johanna Wehner hat dies mit ihrer fantasievollen, bildmächtigen Inszenierung ins Gespenstische und Surreale übersteigert.

 

Köstliche Comedy, uninspirierte Struktur: Yael Ronens The Situation aus Berlin

 

Dass ausgerechnet die einzige in 2016 sowohl in Mülheim als auch beim Berliner Theatertreffen gezeigte Inszenierung zur Enttäuschung wurde, hat auch etwas mit der Differenz zur eigenen Erwartung zu tun. The Situation (siehe hier), die jüngste Stückentwicklung von Yael Ronen und ihrem stets fallweise aufgrund der jeweiligen persönlichen Biographien zusammengesetzten Ensemble vom Maxim Gorki Theater Berlin, kam weder im Hinblick auf die Struktur des Stückes noch im Hinblick auf die unterschiedlichen eingesetzten Theatermittel an die Virtuosität des Vorgängerstücks Common Ground heran. The Cast is the Topic, fasst Regina Guhl das Prinzip von Ronens Stückentwicklungen zusammen: Thematisierten im vergangenen Jahr Schauspieler mit ex-jugoslawischem Migrationshintergrund ihre (teils ganz unbeschwerten) Erfahrungen mit dem Bürgerkrieg auf dem Balkan und das spätere Erschrecken, so geht es diesmal ganz aktuell um „Pride and Prejudice“ im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln. Letzterer ist Deutschlehrer, die übrigen sind Schüler in einem Integrationskurs für Migranten. Das Stück beginnt mit köstlicher Comedy, setzt sich fort über stets gut gemeinte, aber künstlerisch manchmal arg banale kabarettistische Episoden und führt zu einem antagonistischen Höhepunkt in einem imponierenden, nachdenklich stimmenden, aber viel zu langen Monolog von Dimitrij Schaad. Die Produktion hat im Gegensatz zu manch anderem in diesem Jahr gezeigten Stück das, was frühere Jurys so penetrant einforderten, nämlich „Welthaltigkeit“. Es ist politisch, hochaktuell und führt zur Überprüfung eigener Vorurteile und Verhaltensweisen. Anders als bei Fritz Katers endet es mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Unwillkürlich spürt man, dass die Welt der Migranten und damit auch die geforderten Antworten unserer Politik komplizierter, vielseitiger und… ja: manchmal sogar romantischer sind als Lieschen Müller und Otto Mustermann es sich gemeinhin vorstellen – denn alles hängt mit allem zusammen. Das ist gut gemeint und gut beobachtet, aber im Vergleich zum Vorjahr recht uninspiriert zusammengeschustert. Ein netter, unterhaltsamer Abend, der aber für den Dramatikerpreis nicht in Frage kam.

So sahen wir also in sieben lohnenden Inszenierungen innerhalb von zweieinhalb Wochen alles, was der Fall ist – und da in jedem ordentlichen Drama irgendetwas schiefgeht, auch alles, was der Unfall ist. Wir blickten auf aktuelle politische Herausforderungen, beschäftigten uns mit dem zwangsläufigen (?) Scheitern aller Utopien, erfuhren von gescheiterten oder scheiternden Lebens- und Familienentwürfen sowie von der Hölle der Midlfe Crisis. Und waren’s zufrieden. - Dietmar Zimmermann