Berliner Theatertreffen in NRW
Berliner Theatertreffen in NRW
von Dietmar Zimmermann
Die Provinz leuchtet. Es sei „schade, wenn es so aussieht, als liefe alles wieder nur in Berlin“, schrieb uns kürzlich eine Theatermacherin aus einem der spannendsten NRW-Häuser, die sich offenbar ein wenig geärgert hatte über den Hype, der in jedem Jahr um das Berliner Theatertreffen gemacht wird. Aber nein! Was alles in NRW läuft, lesen Sie ja regelmäßig bei theater:pur – bei Gastspielen aber leider meistens nur ex post. Viele der überregionalen Gazetten schauen in NRW nur auf die großen Festivals und auf die Renommier-Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln. Manche haben inzwischen begriffen, dass das avantgardistischste Theater in unserem Land derzeit in Dortmund abläuft. Wer in diesen vier Städten ins Schauspiel geht, sieht viele Highlights des nordrhein-westfälischen Theaters. Wer aber nach Gütersloh, Mülheim oder Siegen fährt, erlebt das Berliner Theatertreffen.
Gleich fünfeinhalb Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum renommiertesten deutschsprachigen Theaterfestival eingeladen wurden und sich daher stolz zu den “bemerkenswertesten” Inszenierungen der jeweiligen Spielzeit zählen dürfen, gastieren bis Ende Mai auch in NRW. Nicht in den großen Theaterstädten unseres Landes, sondern in Essen, Gütersloh, Mülheim und Siegen sehen Sie in den nächsten Wochen ein buntes Potpourri von Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden. In ihrer Unterschiedlichkeit widerlegen sie das Vorurteil, die Berliner Juroren folgten nur einem ganz bestimmten, immer gleichen Beutemuster. theater:pur wird in den kommenden Wochen über alle Gastspiele berichten – mit einer Ausnahme, die bereits im vergangenen Jahr in unserem Magazin rezensiert wurde. Hier eine kurze Vorschau:
28. / 29. April 2017 PACT Zollverein Essen: Forced Entertainment, Dirty Work / The Late Shift, Regie Tim Etchells, Forced Entertainment Sheffield in Kooperation mit PACT Zollverein Essen und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Welturaufführung der bedeutendsten Kompanie des freien Theaters in Europa. Gleich zu Beginn müssen wir Abbitte leisten: Nicht mit „Dirty Work / The Late Shift“ ist Forced Entertainment eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017, sondern mit der Vorjahresproduktion „Real Magic“, die ebenfalls ihre Uraufführung bei PACT Zollverein erlebte. Mit ihrer neuen Produktion greift die wohl wichtigste Kompanie des Freien Theaters in Europa auf eine Arbeit aus dem Jahre 1998 zurück und verspricht, die Komik und die Surrealität der damaligen Performance noch zu erhöhen. Begleitet von einem beschädigten Plattenspieler erdenken zwei Performer „in einem kollaborativen Erfindungswettstreit par excellence … riesige Explosionen und kleinste, subatomare Teilchen, verweben historische Begebenheiten, Alltagsphänomene, unmögliche Heldentaten oder politische Reden in mal dramatischen, mal kabarettistischen Wendungen. Kein Event ist zu groß und kein Bild unaufführbar für die Performer, deren Spiel des erfundenen Theaters das Publikum mitnimmt auf eine Achterbahnfahrt durch ein überwältigendes Delirium an Szenen von erhabener Schönheit bis zu eindringlichem Schrecken: provokativ, intim und hochkomisch. In bekannter Forced Entertainment-Manier erkunden und entblößen sie eine Welt, in der das wahre Leben immer wieder als Spektakel präsentiert wird“ (aus der Ankündigung der Veranstalter). – Forced Entertainment hat im Jahre 2016 den Ibsen-Preis erhalten, der nicht nur der bedeutendste, sondern mit einem Preisgeld von umgerechnet ca. € 300.000,- auch der mit Abstand bestdotierte Theaterpreis der Welt ist. Wir erwarten ein großes Fest der Sprache und der Phantasie.
1. Mai 2017 Biennale im Apollo-Theater Siegen: Yael Ronen und Ensemble, The Situation, Regie Yael Ronen, Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. Pride and Prejudice im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln, endend mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und Slapstick, schreibt Antje van Bürck in theater:pur http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/muelheim-stuecke-situation.html, die jedoch auch den Tiefgang und die Trauer hinter den manchmal platten kabarettistischen Szenen nicht übersieht. Ronens „kluger Humor“, der in diesem turbulenten Stück lange Zeit im Vordergrund steht, sei „wahrscheinlich … das wirkungsvolle Konfliktentkrampfungsmittel“, meint Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel. Doch dieser Humor wird durchaus gebrochen in dem grandiosen Monolog des Dimitrij Schaad, der den zwar ernsthafteren, aber immer noch unterhaltsamen zweiten Teil des Abends dominiert und zu einem schauspielerischen Kabinettstückchen wird. Der Unterzeichner mäkelte dennoch ein wenig schlechtgelaunt herum: Die Qualität von Common Ground, dem Vorgänger-Stück von Yael Ronen, werde weder im Hinblick auf die künstlerischen Mittel (Struktur der Szenen-Collage!) noch im Hinblick auf dessen emotionalen Tiefgang erreicht. Ja, und? Klasse ist’s trotzdem!
5. – 6. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Franz Arnold und Ernst Bach, Die (s)panische Fliege, Regie Herbert Fritsch, Gastspiel Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2012. Von entfesseltem Nonsens, formvollendetem Quatsch, voller Clownspower und sich in Ekstase prügelnden und knutschenden Menschen schwärmen die Kritiker, und noch die humorlosesten Meckerpötte der Theaterkritik liegen sich in den Armen vor Begeisterung. Vielleicht muss man einfach nur Herbert Fritsch heißen, damit solch ein Klamauk goutiert wird, aber eins wird man zugeben müssen: Niemand pflegt einen perfekteren Umgang mit Scherz, Ironie und Satire ohne tiefere Bedeutung als Fritsch. Wahnwitziger Slapstick vom Feinsten, völlig bescheuert, völlig sinnfrei, blöd bis zum Abwinken – hinreißend.
13. Mai „Stücke“ Mülheim in der Stadthalle Mülheim: Olga Bach, Die Vernichtung, Regie Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Ein sensationeller Erfolg des kleinen Konzert Theaters aus der schweizerischen Hauptstadt, ermöglicht durch den Shooting Star der letzten zwei Jahre im Regietheater: Ersan Mondtag zeichnet bei dieser Produktion nicht nur als Regisseur verantwortlich, sondern er trug wesentlich zur Stückentwicklung bei. nachtkritik.de schrieb: „Vier Menschen proben im paradiesischen Garten die Vernichtung der Welt, sehnen sich nach der Erfüllung ihrer Paranoia und führen als zeitdiagnostische Exempel gelangweilten Hedonismus vor. Ersan Mondtags Endzeitfantasie "Die Vernichtung" am Konzert Theater Bern (ist eine) in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte.“ - Grandiose Bilder, lautstarke Partymusik und eine surreale, nach und nach sich in einer kakophonen Geräuschkulisse verlierende Sprache verbinden sich zu einem unheimlich wirkenden Abend; die Lichtregie verfremdet die Handlung zu einer optischen Halluzination. Das ist Sex, Drugs and Rock’n Roll im 21. Jahrhundert und kündet vielleicht sogar von einer Sehnsucht nach einer totalitären Welt - sowas haben Sie noch nicht gesehen!
15. – 16. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Brian Friel nach Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Regie Daniela Löffner, Gastspiel Deutsches Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Iwan Turgenjew spiegelte in seinem 1862 erschienen Roman "Väter und Söhne", wie gesellschaftliche Umbrüche in die Familie hineinwirken. Daniela Löffner macht daraus am Deutschen Theater eine kurzweilige Inszenierung um Sehnsüchte, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse“, fasst Deutschlandradio Kultur die Inszenierung zusammen. Theater heute stellt einer individuellen Würdigung der grandiosen Schauspieler die Hypothese voran, Löffner betone in ihrer Arbeit den Aspekt der Familienaufstellung und zeige Menschen „bei ihren komischen, melancholischen Verrenkungen in den Fragen „Wie soll man denken, leben, lieben““. Wenn Sie das an die einfühlsamen Tschechow-Inszenierungen erinnert, die Jürgen Gosch ebenfalls am Deutschen Theater Berlin angerührt hat, ist das kein Zufall: Löffner war über viele Jahre Goschs Assistentin. Aus ihren „Vätern und Söhnen“ macht sie ganz im Sinne von Brian Friel ein großartiges well-made play – nur dass die typischen well-made plays britischer Machart selten länger als fernsehtaugliche 90 Minuten währen, während Daniela Löffner uns über ausgewachsene vier Stunden Vergnügen bereitet. Glaubt man der Theaterkritik, vergehen sie im Fluge.
31. Mai Theater Gütersloh: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk, Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Clemens Sienknecht, Barbara Bürk und ihre Ausstatterin Anke Grot haben für „Effi Briest“ ein ziemlich durchgeknalltes Tonstudio aus der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, in dem die schon etwas angejahrten Schauspieler manchmal sogar ein wenig ein wenig Fontane spielen. Meist erklingt dessen Text allerdings von einer verkratzten Schellack-Platte. Vor allem aber legt die großartige Hamburger Schauspieler-Combo Radio-Hits auf: Schlager, Chansons oder Rock’n Roll, was immer gerade zu Fontane passt. Das ist ein Heiden-Spaß, und bei dem werden, um noch einmal die Süddeutsche zu zitieren, „alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten … in perfektem Timing gezogen“. Wenn so ebbes zum Theatertreffen geladen wird, haben sich die Juroren entweder einen April-Scherz im Februar erlaubt oder es muss wirklich gut sein.
Weiter im Repertoire: Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, Die Borderline Prozession, Regie Kay Voges, Schauspiel Dortmund. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Derzeit keine Termine. Die ausführliche Schilderung der Erlebnisse des theater:pur-Autors finden Sie hier: http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/dortmund-borderline.html
Auf in die Provinz, liebe Leserinnen und Leser – nirgendwo können Sie besser die Schönheit der Hauptstadt entdecken.
Berliner Theatertreffen in NRW
Die Provinz leuchtet. Es sei „schade, wenn es so aussieht, als liefe alles wieder nur in Berlin“, schrieb uns kürzlich eine Theatermacherin aus einem der spannendsten NRW-Häuser, die sich offenbar ein wenig geärgert hatte über den Hype, der in jedem Jahr um das Berliner Theatertreffen gemacht wird. Aber nein! Was alles in NRW läuft, lesen Sie ja regelmäßig bei theater:pur – bei Gastspielen aber leider meistens nur ex post. Viele der überregionalen Gazetten schauen in NRW nur auf die großen Festivals und auf die Renommier-Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln. Manche haben inzwischen begriffen, dass das avantgardistischste Theater in unserem Land derzeit in Dortmund abläuft. Wer in diesen vier Städten ins Schauspiel geht, sieht viele Highlights des nordrhein-westfälischen Theaters. Wer aber nach Gütersloh, Mülheim oder Siegen fährt, erlebt das Berliner Theatertreffen.
Gleich fünfeinhalb Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum renommiertesten deutschsprachigen Theaterfestival eingeladen wurden und sich daher stolz zu den “bemerkenswertesten” Inszenierungen der jeweiligen Spielzeit zählen dürfen, gastieren bis Ende Mai auch in NRW. Nicht in den großen Theaterstädten unseres Landes, sondern in Essen, Gütersloh, Mülheim und Siegen sehen Sie in den nächsten Wochen ein buntes Potpourri von Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden. In ihrer Unterschiedlichkeit widerlegen sie das Vorurteil, die Berliner Juroren folgten nur einem ganz bestimmten, immer gleichen Beutemuster. theater:pur wird in den kommenden Wochen über alle Gastspiele berichten – mit einer Ausnahme, die bereits im vergangenen Jahr in unserem Magazin rezensiert wurde. Hier eine kurze Vorschau:
28. / 29. April 2017 PACT Zollverein Essen: Forced Entertainment, Dirty Work / The Late Shift, Regie Tim Etchells, Forced Entertainment Sheffield in Kooperation mit PACT Zollverein Essen und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Welturaufführung der bedeutendsten Kompanie des freien Theaters in Europa. Gleich zu Beginn müssen wir Abbitte leisten: Nicht mit „Dirty Work / The Late Shift“ ist Forced Entertainment eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017, sondern mit der Vorjahresproduktion „Real Magic“, die ebenfalls ihre Uraufführung bei PACT Zollverein erlebte. Mit ihrer neuen Produktion greift die wohl wichtigste Kompanie des Freien Theaters in Europa auf eine Arbeit aus dem Jahre 1998 zurück und verspricht, die Komik und die Surrealität der damaligen Performance noch zu erhöhen. Begleitet von einem beschädigten Plattenspieler erdenken zwei Performer „in einem kollaborativen Erfindungswettstreit par excellence … riesige Explosionen und kleinste, subatomare Teilchen, verweben historische Begebenheiten, Alltagsphänomene, unmögliche Heldentaten oder politische Reden in mal dramatischen, mal kabarettistischen Wendungen. Kein Event ist zu groß und kein Bild unaufführbar für die Performer, deren Spiel des erfundenen Theaters das Publikum mitnimmt auf eine Achterbahnfahrt durch ein überwältigendes Delirium an Szenen von erhabener Schönheit bis zu eindringlichem Schrecken: provokativ, intim und hochkomisch. In bekannter Forced Entertainment-Manier erkunden und entblößen sie eine Welt, in der das wahre Leben immer wieder als Spektakel präsentiert wird“ (aus der Ankündigung der Veranstalter). – Forced Entertainment hat im Jahre 2016 den Ibsen-Preis erhalten, der nicht nur der bedeutendste, sondern mit einem Preisgeld von umgerechnet ca. € 300.000,- auch der mit Abstand bestdotierte Theaterpreis der Welt ist. Wir erwarten ein großes Fest der Sprache und der Phantasie.
1. Mai 2017 Biennale im Apollo-Theater Siegen: Yael Ronen und Ensemble, The Situation, Regie Yael Ronen, Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. Pride and Prejudice im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln, endend mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und Slapstick, schreibt Antje van Bürck in theater:pur http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/muelheim-stuecke-situation.html, die jedoch auch den Tiefgang und die Trauer hinter den manchmal platten kabarettistischen Szenen nicht übersieht. Ronens „kluger Humor“, der in diesem turbulenten Stück lange Zeit im Vordergrund steht, sei „wahrscheinlich … das wirkungsvolle Konfliktentkrampfungsmittel“, meint Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel. Doch dieser Humor wird durchaus gebrochen in dem grandiosen Monolog des Dimitrij Schaad, der den zwar ernsthafteren, aber immer noch unterhaltsamen zweiten Teil des Abends dominiert und zu einem schauspielerischen Kabinettstückchen wird. Der Unterzeichner mäkelte dennoch ein wenig schlechtgelaunt herum: Die Qualität von Common Ground, dem Vorgänger-Stück von Yael Ronen, werde weder im Hinblick auf die künstlerischen Mittel (Struktur der Szenen-Collage!) noch im Hinblick auf dessen emotionalen Tiefgang erreicht. Ja, und? Klasse ist’s trotzdem!
5. – 6. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Franz Arnold und Ernst Bach, Die (s)panische Fliege, Regie Herbert Fritsch, Gastspiel Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2012. Von entfesseltem Nonsens, formvollendetem Quatsch, voller Clownspower und sich in Ekstase prügelnden und knutschenden Menschen schwärmen die Kritiker, und noch die humorlosesten Meckerpötte der Theaterkritik liegen sich in den Armen vor Begeisterung. Vielleicht muss man einfach nur Herbert Fritsch heißen, damit solch ein Klamauk goutiert wird, aber eins wird man zugeben müssen: Niemand pflegt einen perfekteren Umgang mit Scherz, Ironie und Satire ohne tiefere Bedeutung als Fritsch. Wahnwitziger Slapstick vom Feinsten, völlig bescheuert, völlig sinnfrei, blöd bis zum Abwinken – hinreißend.
13. Mai „Stücke“ Mülheim in der Stadthalle Mülheim: Olga Bach, Die Vernichtung, Regie Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Ein sensationeller Erfolg des kleinen Konzert Theaters aus der schweizerischen Hauptstadt, ermöglicht durch den Shooting Star der letzten zwei Jahre im Regietheater: Ersan Mondtag zeichnet bei dieser Produktion nicht nur als Regisseur verantwortlich, sondern er trug wesentlich zur Stückentwicklung bei. nachtkritik.de schrieb: „Vier Menschen proben im paradiesischen Garten die Vernichtung der Welt, sehnen sich nach der Erfüllung ihrer Paranoia und führen als zeitdiagnostische Exempel gelangweilten Hedonismus vor. Ersan Mondtags Endzeitfantasie "Die Vernichtung" am Konzert Theater Bern (ist eine) in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte.“ - Grandiose Bilder, lautstarke Partymusik und eine surreale, nach und nach sich in einer kakophonen Geräuschkulisse verlierende Sprache verbinden sich zu einem unheimlich wirkenden Abend; die Lichtregie verfremdet die Handlung zu einer optischen Halluzination. Das ist Sex, Drugs and Rock’n Roll im 21. Jahrhundert und kündet vielleicht sogar von einer Sehnsucht nach einer totalitären Welt - sowas haben Sie noch nicht gesehen!
15. – 16. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Brian Friel nach Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Regie Daniela Löffner, Gastspiel Deutsches Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Iwan Turgenjew spiegelte in seinem 1862 erschienen Roman "Väter und Söhne", wie gesellschaftliche Umbrüche in die Familie hineinwirken. Daniela Löffner macht daraus am Deutschen Theater eine kurzweilige Inszenierung um Sehnsüchte, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse“, fasst Deutschlandradio Kultur die Inszenierung zusammen. Theater heute stellt einer individuellen Würdigung der grandiosen Schauspieler die Hypothese voran, Löffner betone in ihrer Arbeit den Aspekt der Familienaufstellung und zeige Menschen „bei ihren komischen, melancholischen Verrenkungen in den Fragen „Wie soll man denken, leben, lieben““. Wenn Sie das an die einfühlsamen Tschechow-Inszenierungen erinnert, die Jürgen Gosch ebenfalls am Deutschen Theater Berlin angerührt hat, ist das kein Zufall: Löffner war über viele Jahre Goschs Assistentin. Aus ihren „Vätern und Söhnen“ macht sie ganz im Sinne von Brian Friel ein großartiges well-made play – nur dass die typischen well-made plays britischer Machart selten länger als fernsehtaugliche 90 Minuten währen, während Daniela Löffner uns über ausgewachsene vier Stunden Vergnügen bereitet. Glaubt man der Theaterkritik, vergehen sie im Fluge.
31. Mai Theater Gütersloh: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk, Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Clemens Sienknecht, Barbara Bürk und ihre Ausstatterin Anke Grot haben für „Effi Briest“ ein ziemlich durchgeknalltes Tonstudio aus der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, in dem die schon etwas angejahrten Schauspieler manchmal sogar ein wenig ein wenig Fontane spielen. Meist erklingt dessen Text allerdings von einer verkratzten Schellack-Platte. Vor allem aber legt die großartige Hamburger Schauspieler-Combo Radio-Hits auf: Schlager, Chansons oder Rock’n Roll, was immer gerade zu Fontane passt. Das ist ein Heiden-Spaß, und bei dem werden, um noch einmal die Süddeutsche zu zitieren, „alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten … in perfektem Timing gezogen“. Wenn so ebbes zum Theatertreffen geladen wird, haben sich die Juroren entweder einen April-Scherz im Februar erlaubt oder es muss wirklich gut sein.
Weiter im Repertoire: Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, Die Borderline Prozession, Regie Kay Voges, Schauspiel Dortmund. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Derzeit keine Termine. Die ausführliche Schilderung der Erlebnisse des theater:pur-Autors finden Sie hier: http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/dortmund-borderline.html
Auf in die Provinz, liebe Leserinnen und Leser – nirgendwo können Sie besser die Schönheit der Hauptstadt entdecken.
(Dietmar Zimmermann)
Berliner Theatertreffen in NRW
Die Provinz leuchtet. Es sei „schade, wenn es so aussieht, als liefe alles wieder nur in Berlin“, schrieb uns kürzlich eine Theatermacherin aus einem der spannendsten NRW-Häuser, die sich offenbar ein wenig geärgert hatte über den Hype, der in jedem Jahr um das Berliner Theatertreffen gemacht wird. Aber nein! Was alles in NRW läuft, lesen Sie ja regelmäßig bei theater:pur – bei Gastspielen aber leider meistens nur ex post. Viele der überregionalen Gazetten schauen in NRW nur auf die großen Festivals und auf die Renommier-Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln. Manche haben inzwischen begriffen, dass das avantgardistischste Theater in unserem Land derzeit in Dortmund abläuft. Wer in diesen vier Städten ins Schauspiel geht, sieht viele Highlights des nordrhein-westfälischen Theaters. Wer aber nach Gütersloh, Mülheim oder Siegen fährt, erlebt das Berliner Theatertreffen.
Gleich fünfeinhalb Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum renommiertesten deutschsprachigen Theaterfestival eingeladen wurden und sich daher stolz zu den “bemerkenswertesten” Inszenierungen der jeweiligen Spielzeit zählen dürfen, gastieren bis Ende Mai auch in NRW. Nicht in den großen Theaterstädten unseres Landes, sondern in Essen, Gütersloh, Mülheim und Siegen sehen Sie in den nächsten Wochen ein buntes Potpourri von Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden. In ihrer Unterschiedlichkeit widerlegen sie das Vorurteil, die Berliner Juroren folgten nur einem ganz bestimmten, immer gleichen Beutemuster. theater:pur wird in den kommenden Wochen über alle Gastspiele berichten – mit einer Ausnahme, die bereits im vergangenen Jahr in unserem Magazin rezensiert wurde. Hier eine kurze Vorschau:
28. / 29. April 2017 PACT Zollverein Essen: Forced Entertainment, Dirty Work / The Late Shift, Regie Tim Etchells, Forced Entertainment Sheffield in Kooperation mit PACT Zollverein Essen und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Welturaufführung der bedeutendsten Kompanie des freien Theaters in Europa. Gleich zu Beginn müssen wir Abbitte leisten: Nicht mit „Dirty Work / The Late Shift“ ist Forced Entertainment eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017, sondern mit der Vorjahresproduktion „Real Magic“, die ebenfalls ihre Uraufführung bei PACT Zollverein erlebte. Mit ihrer neuen Produktion greift die wohl wichtigste Kompanie des Freien Theaters in Europa auf eine Arbeit aus dem Jahre 1998 zurück und verspricht, die Komik und die Surrealität der damaligen Performance noch zu erhöhen. Begleitet von einem beschädigten Plattenspieler erdenken zwei Performer „in einem kollaborativen Erfindungswettstreit par excellence … riesige Explosionen und kleinste, subatomare Teilchen, verweben historische Begebenheiten, Alltagsphänomene, unmögliche Heldentaten oder politische Reden in mal dramatischen, mal kabarettistischen Wendungen. Kein Event ist zu groß und kein Bild unaufführbar für die Performer, deren Spiel des erfundenen Theaters das Publikum mitnimmt auf eine Achterbahnfahrt durch ein überwältigendes Delirium an Szenen von erhabener Schönheit bis zu eindringlichem Schrecken: provokativ, intim und hochkomisch. In bekannter Forced Entertainment-Manier erkunden und entblößen sie eine Welt, in der das wahre Leben immer wieder als Spektakel präsentiert wird“ (aus der Ankündigung der Veranstalter). – Forced Entertainment hat im Jahre 2016 den Ibsen-Preis erhalten, der nicht nur der bedeutendste, sondern mit einem Preisgeld von umgerechnet ca. € 300.000,- auch der mit Abstand bestdotierte Theaterpreis der Welt ist. Wir erwarten ein großes Fest der Sprache und der Phantasie.
1. Mai 2017 Biennale im Apollo-Theater Siegen: Yael Ronen und Ensemble, The Situation, Regie Yael Ronen, Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. Pride and Prejudice im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln, endend mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und Slapstick, schreibt Antje van Bürck in theater:pur http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/muelheim-stuecke-situation.html, die jedoch auch den Tiefgang und die Trauer hinter den manchmal platten kabarettistischen Szenen nicht übersieht. Ronens „kluger Humor“, der in diesem turbulenten Stück lange Zeit im Vordergrund steht, sei „wahrscheinlich … das wirkungsvolle Konfliktentkrampfungsmittel“, meint Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel. Doch dieser Humor wird durchaus gebrochen in dem grandiosen Monolog des Dimitrij Schaad, der den zwar ernsthafteren, aber immer noch unterhaltsamen zweiten Teil des Abends dominiert und zu einem schauspielerischen Kabinettstückchen wird. Der Unterzeichner mäkelte dennoch ein wenig schlechtgelaunt herum: Die Qualität von Common Ground, dem Vorgänger-Stück von Yael Ronen, werde weder im Hinblick auf die künstlerischen Mittel (Struktur der Szenen-Collage!) noch im Hinblick auf dessen emotionalen Tiefgang erreicht. Ja, und? Klasse ist’s trotzdem!
5. – 6. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Franz Arnold und Ernst Bach, Die (s)panische Fliege, Regie Herbert Fritsch, Gastspiel Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2012. Von entfesseltem Nonsens, formvollendetem Quatsch, voller Clownspower und sich in Ekstase prügelnden und knutschenden Menschen schwärmen die Kritiker, und noch die humorlosesten Meckerpötte der Theaterkritik liegen sich in den Armen vor Begeisterung. Vielleicht muss man einfach nur Herbert Fritsch heißen, damit solch ein Klamauk goutiert wird, aber eins wird man zugeben müssen: Niemand pflegt einen perfekteren Umgang mit Scherz, Ironie und Satire ohne tiefere Bedeutung als Fritsch. Wahnwitziger Slapstick vom Feinsten, völlig bescheuert, völlig sinnfrei, blöd bis zum Abwinken – hinreißend.
13. Mai „Stücke“ Mülheim in der Stadthalle Mülheim: Olga Bach, Die Vernichtung, Regie Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Ein sensationeller Erfolg des kleinen Konzert Theaters aus der schweizerischen Hauptstadt, ermöglicht durch den Shooting Star der letzten zwei Jahre im Regietheater: Ersan Mondtag zeichnet bei dieser Produktion nicht nur als Regisseur verantwortlich, sondern er trug wesentlich zur Stückentwicklung bei. nachtkritik.de schrieb: „Vier Menschen proben im paradiesischen Garten die Vernichtung der Welt, sehnen sich nach der Erfüllung ihrer Paranoia und führen als zeitdiagnostische Exempel gelangweilten Hedonismus vor. Ersan Mondtags Endzeitfantasie "Die Vernichtung" am Konzert Theater Bern (ist eine) in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte.“ - Grandiose Bilder, lautstarke Partymusik und eine surreale, nach und nach sich in einer kakophonen Geräuschkulisse verlierende Sprache verbinden sich zu einem unheimlich wirkenden Abend; die Lichtregie verfremdet die Handlung zu einer optischen Halluzination. Das ist Sex, Drugs and Rock’n Roll im 21. Jahrhundert und kündet vielleicht sogar von einer Sehnsucht nach einer totalitären Welt - sowas haben Sie noch nicht gesehen!
15. – 16. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Brian Friel nach Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Regie Daniela Löffner, Gastspiel Deutsches Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Iwan Turgenjew spiegelte in seinem 1862 erschienen Roman "Väter und Söhne", wie gesellschaftliche Umbrüche in die Familie hineinwirken. Daniela Löffner macht daraus am Deutschen Theater eine kurzweilige Inszenierung um Sehnsüchte, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse“, fasst Deutschlandradio Kultur die Inszenierung zusammen. Theater heute stellt einer individuellen Würdigung der grandiosen Schauspieler die Hypothese voran, Löffner betone in ihrer Arbeit den Aspekt der Familienaufstellung und zeige Menschen „bei ihren komischen, melancholischen Verrenkungen in den Fragen „Wie soll man denken, leben, lieben““. Wenn Sie das an die einfühlsamen Tschechow-Inszenierungen erinnert, die Jürgen Gosch ebenfalls am Deutschen Theater Berlin angerührt hat, ist das kein Zufall: Löffner war über viele Jahre Goschs Assistentin. Aus ihren „Vätern und Söhnen“ macht sie ganz im Sinne von Brian Friel ein großartiges well-made play – nur dass die typischen well-made plays britischer Machart selten länger als fernsehtaugliche 90 Minuten währen, während Daniela Löffner uns über ausgewachsene vier Stunden Vergnügen bereitet. Glaubt man der Theaterkritik, vergehen sie im Fluge.
31. Mai Theater Gütersloh: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk, Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Clemens Sienknecht, Barbara Bürk und ihre Ausstatterin Anke Grot haben für „Effi Briest“ ein ziemlich durchgeknalltes Tonstudio aus der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, in dem die schon etwas angejahrten Schauspieler manchmal sogar ein wenig ein wenig Fontane spielen. Meist erklingt dessen Text allerdings von einer verkratzten Schellack-Platte. Vor allem aber legt die großartige Hamburger Schauspieler-Combo Radio-Hits auf: Schlager, Chansons oder Rock’n Roll, was immer gerade zu Fontane passt. Das ist ein Heiden-Spaß, und bei dem werden, um noch einmal die Süddeutsche zu zitieren, „alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten … in perfektem Timing gezogen“. Wenn so ebbes zum Theatertreffen geladen wird, haben sich die Juroren entweder einen April-Scherz im Februar erlaubt oder es muss wirklich gut sein.
Weiter im Repertoire: Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, Die Borderline Prozession, Regie Kay Voges, Schauspiel Dortmund. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Derzeit keine Termine. Die ausführliche Schilderung der Erlebnisse des theater:pur-Autors finden Sie hier: http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/dortmund-borderline.html
Auf in die Provinz, liebe Leserinnen und Leser – nirgendwo können Sie besser die Schönheit der Hauptstadt entdecken.
(Dietmar Zimmermann)
Berliner Theatertreffen in NRW
Die Provinz leuchtet. Es sei „schade, wenn es so aussieht, als liefe alles wieder nur in Berlin“, schrieb uns kürzlich eine Theatermacherin aus einem der spannendsten NRW-Häuser, die sich offenbar ein wenig geärgert hatte über den Hype, der in jedem Jahr um das Berliner Theatertreffen gemacht wird. Aber nein! Was alles in NRW läuft, lesen Sie ja regelmäßig bei theater:pur – bei Gastspielen aber leider meistens nur ex post. Viele der überregionalen Gazetten schauen in NRW nur auf die großen Festivals und auf die Renommier-Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln. Manche haben inzwischen begriffen, dass das avantgardistischste Theater in unserem Land derzeit in Dortmund abläuft. Wer in diesen vier Städten ins Schauspiel geht, sieht viele Highlights des nordrhein-westfälischen Theaters. Wer aber nach Gütersloh, Mülheim oder Siegen fährt, erlebt das Berliner Theatertreffen.
Gleich fünfeinhalb Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum renommiertesten deutschsprachigen Theaterfestival eingeladen wurden und sich daher stolz zu den “bemerkenswertesten” Inszenierungen der jeweiligen Spielzeit zählen dürfen, gastieren bis Ende Mai auch in NRW. Nicht in den großen Theaterstädten unseres Landes, sondern in Essen, Gütersloh, Mülheim und Siegen sehen Sie in den nächsten Wochen ein buntes Potpourri von Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden. In ihrer Unterschiedlichkeit widerlegen sie das Vorurteil, die Berliner Juroren folgten nur einem ganz bestimmten, immer gleichen Beutemuster. theater:pur wird in den kommenden Wochen über alle Gastspiele berichten – mit einer Ausnahme, die bereits im vergangenen Jahr in unserem Magazin rezensiert wurde. Hier eine kurze Vorschau:
28. / 29. April 2017 PACT Zollverein Essen: Forced Entertainment, Dirty Work / The Late Shift, Regie Tim Etchells, Forced Entertainment Sheffield in Kooperation mit PACT Zollverein Essen und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Welturaufführung der bedeutendsten Kompanie des freien Theaters in Europa. Gleich zu Beginn müssen wir Abbitte leisten: Nicht mit „Dirty Work / The Late Shift“ ist Forced Entertainment eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017, sondern mit der Vorjahresproduktion „Real Magic“, die ebenfalls ihre Uraufführung bei PACT Zollverein erlebte. Mit ihrer neuen Produktion greift die wohl wichtigste Kompanie des Freien Theaters in Europa auf eine Arbeit aus dem Jahre 1998 zurück und verspricht, die Komik und die Surrealität der damaligen Performance noch zu erhöhen. Begleitet von einem beschädigten Plattenspieler erdenken zwei Performer „in einem kollaborativen Erfindungswettstreit par excellence … riesige Explosionen und kleinste, subatomare Teilchen, verweben historische Begebenheiten, Alltagsphänomene, unmögliche Heldentaten oder politische Reden in mal dramatischen, mal kabarettistischen Wendungen. Kein Event ist zu groß und kein Bild unaufführbar für die Performer, deren Spiel des erfundenen Theaters das Publikum mitnimmt auf eine Achterbahnfahrt durch ein überwältigendes Delirium an Szenen von erhabener Schönheit bis zu eindringlichem Schrecken: provokativ, intim und hochkomisch. In bekannter Forced Entertainment-Manier erkunden und entblößen sie eine Welt, in der das wahre Leben immer wieder als Spektakel präsentiert wird“ (aus der Ankündigung der Veranstalter). – Forced Entertainment hat im Jahre 2016 den Ibsen-Preis erhalten, der nicht nur der bedeutendste, sondern mit einem Preisgeld von umgerechnet ca. € 300.000,- auch der mit Abstand bestdotierte Theaterpreis der Welt ist. Wir erwarten ein großes Fest der Sprache und der Phantasie.
1. Mai 2017 Biennale im Apollo-Theater Siegen: Yael Ronen und Ensemble, The Situation, Regie Yael Ronen, Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. Pride and Prejudice im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln, endend mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und Slapstick, schreibt Antje van Bürck in theater:pur http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/muelheim-stuecke-situation.html, die jedoch auch den Tiefgang und die Trauer hinter den manchmal platten kabarettistischen Szenen nicht übersieht. Ronens „kluger Humor“, der in diesem turbulenten Stück lange Zeit im Vordergrund steht, sei „wahrscheinlich … das wirkungsvolle Konfliktentkrampfungsmittel“, meint Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel. Doch dieser Humor wird durchaus gebrochen in dem grandiosen Monolog des Dimitrij Schaad, der den zwar ernsthafteren, aber immer noch unterhaltsamen zweiten Teil des Abends dominiert und zu einem schauspielerischen Kabinettstückchen wird. Der Unterzeichner mäkelte dennoch ein wenig schlechtgelaunt herum: Die Qualität von Common Ground, dem Vorgänger-Stück von Yael Ronen, werde weder im Hinblick auf die künstlerischen Mittel (Struktur der Szenen-Collage!) noch im Hinblick auf dessen emotionalen Tiefgang erreicht. Ja, und? Klasse ist’s trotzdem!
5. – 6. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Franz Arnold und Ernst Bach, Die (s)panische Fliege, Regie Herbert Fritsch, Gastspiel Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2012. Von entfesseltem Nonsens, formvollendetem Quatsch, voller Clownspower und sich in Ekstase prügelnden und knutschenden Menschen schwärmen die Kritiker, und noch die humorlosesten Meckerpötte der Theaterkritik liegen sich in den Armen vor Begeisterung. Vielleicht muss man einfach nur Herbert Fritsch heißen, damit solch ein Klamauk goutiert wird, aber eins wird man zugeben müssen: Niemand pflegt einen perfekteren Umgang mit Scherz, Ironie und Satire ohne tiefere Bedeutung als Fritsch. Wahnwitziger Slapstick vom Feinsten, völlig bescheuert, völlig sinnfrei, blöd bis zum Abwinken – hinreißend.
13. Mai „Stücke“ Mülheim in der Stadthalle Mülheim: Olga Bach, Die Vernichtung, Regie Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Ein sensationeller Erfolg des kleinen Konzert Theaters aus der schweizerischen Hauptstadt, ermöglicht durch den Shooting Star der letzten zwei Jahre im Regietheater: Ersan Mondtag zeichnet bei dieser Produktion nicht nur als Regisseur verantwortlich, sondern er trug wesentlich zur Stückentwicklung bei. nachtkritik.de schrieb: „Vier Menschen proben im paradiesischen Garten die Vernichtung der Welt, sehnen sich nach der Erfüllung ihrer Paranoia und führen als zeitdiagnostische Exempel gelangweilten Hedonismus vor. Ersan Mondtags Endzeitfantasie "Die Vernichtung" am Konzert Theater Bern (ist eine) in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte.“ - Grandiose Bilder, lautstarke Partymusik und eine surreale, nach und nach sich in einer kakophonen Geräuschkulisse verlierende Sprache verbinden sich zu einem unheimlich wirkenden Abend; die Lichtregie verfremdet die Handlung zu einer optischen Halluzination. Das ist Sex, Drugs and Rock’n Roll im 21. Jahrhundert und kündet vielleicht sogar von einer Sehnsucht nach einer totalitären Welt - sowas haben Sie noch nicht gesehen!
15. – 16. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Brian Friel nach Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Regie Daniela Löffner, Gastspiel Deutsches Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Iwan Turgenjew spiegelte in seinem 1862 erschienen Roman "Väter und Söhne", wie gesellschaftliche Umbrüche in die Familie hineinwirken. Daniela Löffner macht daraus am Deutschen Theater eine kurzweilige Inszenierung um Sehnsüchte, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse“, fasst Deutschlandradio Kultur die Inszenierung zusammen. Theater heute stellt einer individuellen Würdigung der grandiosen Schauspieler die Hypothese voran, Löffner betone in ihrer Arbeit den Aspekt der Familienaufstellung und zeige Menschen „bei ihren komischen, melancholischen Verrenkungen in den Fragen „Wie soll man denken, leben, lieben““. Wenn Sie das an die einfühlsamen Tschechow-Inszenierungen erinnert, die Jürgen Gosch ebenfalls am Deutschen Theater Berlin angerührt hat, ist das kein Zufall: Löffner war über viele Jahre Goschs Assistentin. Aus ihren „Vätern und Söhnen“ macht sie ganz im Sinne von Brian Friel ein großartiges well-made play – nur dass die typischen well-made plays britischer Machart selten länger als fernsehtaugliche 90 Minuten währen, während Daniela Löffner uns über ausgewachsene vier Stunden Vergnügen bereitet. Glaubt man der Theaterkritik, vergehen sie im Fluge.
31. Mai Theater Gütersloh: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk, Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Clemens Sienknecht, Barbara Bürk und ihre Ausstatterin Anke Grot haben für „Effi Briest“ ein ziemlich durchgeknalltes Tonstudio aus der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, in dem die schon etwas angejahrten Schauspieler manchmal sogar ein wenig ein wenig Fontane spielen. Meist erklingt dessen Text allerdings von einer verkratzten Schellack-Platte. Vor allem aber legt die großartige Hamburger Schauspieler-Combo Radio-Hits auf: Schlager, Chansons oder Rock’n Roll, was immer gerade zu Fontane passt. Das ist ein Heiden-Spaß, und bei dem werden, um noch einmal die Süddeutsche zu zitieren, „alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten … in perfektem Timing gezogen“. Wenn so ebbes zum Theatertreffen geladen wird, haben sich die Juroren entweder einen April-Scherz im Februar erlaubt oder es muss wirklich gut sein.
Weiter im Repertoire: Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, Die Borderline Prozession, Regie Kay Voges, Schauspiel Dortmund. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Derzeit keine Termine. Die ausführliche Schilderung der Erlebnisse des theater:pur-Autors finden Sie hier: http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/dortmund-borderline.html
Auf in die Provinz, liebe Leserinnen und Leser – nirgendwo können Sie besser die Schönheit der Hauptstadt entdecken.
(Dietmar Zimmermann)
Berliner Theatertreffen in NRW
Die Provinz leuchtet. Es sei „schade, wenn es so aussieht, als liefe alles wieder nur in Berlin“, schrieb uns kürzlich eine Theatermacherin aus einem der spannendsten NRW-Häuser, die sich offenbar ein wenig geärgert hatte über den Hype, der in jedem Jahr um das Berliner Theatertreffen gemacht wird. Aber nein! Was alles in NRW läuft, lesen Sie ja regelmäßig bei theater:pur – bei Gastspielen aber leider meistens nur ex post. Viele der überregionalen Gazetten schauen in NRW nur auf die großen Festivals und auf die Renommier-Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln. Manche haben inzwischen begriffen, dass das avantgardistischste Theater in unserem Land derzeit in Dortmund abläuft. Wer in diesen vier Städten ins Schauspiel geht, sieht viele Highlights des nordrhein-westfälischen Theaters. Wer aber nach Gütersloh, Mülheim oder Siegen fährt, erlebt das Berliner Theatertreffen.
Gleich fünfeinhalb Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum renommiertesten deutschsprachigen Theaterfestival eingeladen wurden und sich daher stolz zu den “bemerkenswertesten” Inszenierungen der jeweiligen Spielzeit zählen dürfen, gastieren bis Ende Mai auch in NRW. Nicht in den großen Theaterstädten unseres Landes, sondern in Essen, Gütersloh, Mülheim und Siegen sehen Sie in den nächsten Wochen ein buntes Potpourri von Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden. In ihrer Unterschiedlichkeit widerlegen sie das Vorurteil, die Berliner Juroren folgten nur einem ganz bestimmten, immer gleichen Beutemuster. theater:pur wird in den kommenden Wochen über alle Gastspiele berichten – mit einer Ausnahme, die bereits im vergangenen Jahr in unserem Magazin rezensiert wurde. Hier eine kurze Vorschau:
28. / 29. April 2017 PACT Zollverein Essen: Forced Entertainment, Dirty Work / The Late Shift, Regie Tim Etchells, Forced Entertainment Sheffield in Kooperation mit PACT Zollverein Essen und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Welturaufführung der bedeutendsten Kompanie des freien Theaters in Europa. Gleich zu Beginn müssen wir Abbitte leisten: Nicht mit „Dirty Work / The Late Shift“ ist Forced Entertainment eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017, sondern mit der Vorjahresproduktion „Real Magic“, die ebenfalls ihre Uraufführung bei PACT Zollverein erlebte. Mit ihrer neuen Produktion greift die wohl wichtigste Kompanie des Freien Theaters in Europa auf eine Arbeit aus dem Jahre 1998 zurück und verspricht, die Komik und die Surrealität der damaligen Performance noch zu erhöhen. Begleitet von einem beschädigten Plattenspieler erdenken zwei Performer „in einem kollaborativen Erfindungswettstreit par excellence … riesige Explosionen und kleinste, subatomare Teilchen, verweben historische Begebenheiten, Alltagsphänomene, unmögliche Heldentaten oder politische Reden in mal dramatischen, mal kabarettistischen Wendungen. Kein Event ist zu groß und kein Bild unaufführbar für die Performer, deren Spiel des erfundenen Theaters das Publikum mitnimmt auf eine Achterbahnfahrt durch ein überwältigendes Delirium an Szenen von erhabener Schönheit bis zu eindringlichem Schrecken: provokativ, intim und hochkomisch. In bekannter Forced Entertainment-Manier erkunden und entblößen sie eine Welt, in der das wahre Leben immer wieder als Spektakel präsentiert wird“ (aus der Ankündigung der Veranstalter). – Forced Entertainment hat im Jahre 2016 den Ibsen-Preis erhalten, der nicht nur der bedeutendste, sondern mit einem Preisgeld von umgerechnet ca. € 300.000,- auch der mit Abstand bestdotierte Theaterpreis der Welt ist. Wir erwarten ein großes Fest der Sprache und der Phantasie.
1. Mai 2017 Biennale im Apollo-Theater Siegen: Yael Ronen und Ensemble, The Situation, Regie Yael Ronen, Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. Pride and Prejudice im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln, endend mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und Slapstick, schreibt Antje van Bürck in theater:pur , die jedoch auch den Tiefgang und die Trauer hinter den manchmal platten kabarettistischen Szenen nicht übersieht. Ronens „kluger Humor“, der in diesem turbulenten Stück lange Zeit im Vordergrund steht, sei „wahrscheinlich … das wirkungsvolle Konfliktentkrampfungsmittel“, meint Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel. Doch dieser Humor wird durchaus gebrochen in dem grandiosen Monolog des Dimitrij Schaad, der den zwar ernsthafteren, aber immer noch unterhaltsamen zweiten Teil des Abends dominiert und zu einem schauspielerischen Kabinettstückchen wird. Der Unterzeichner mäkelte dennoch ein wenig schlechtgelaunt herum: Die Qualität von Common Ground, dem Vorgänger-Stück von Yael Ronen, werde weder im Hinblick auf die künstlerischen Mittel (Struktur der Szenen-Collage!) noch im Hinblick auf dessen emotionalen Tiefgang erreicht. Ja, und? Klasse ist’s trotzdem!
5. – 6. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Franz Arnold und Ernst Bach, Die (s)panische Fliege, Regie Herbert Fritsch, Gastspiel Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2012. Von entfesseltem Nonsens, formvollendetem Quatsch, voller Clownspower und sich in Ekstase prügelnden und knutschenden Menschen schwärmen die Kritiker, und noch die humorlosesten Meckerpötte der Theaterkritik liegen sich in den Armen vor Begeisterung. Vielleicht muss man einfach nur Herbert Fritsch heißen, damit solch ein Klamauk goutiert wird, aber eins wird man zugeben müssen: Niemand pflegt einen perfekteren Umgang mit Scherz, Ironie und Satire ohne tiefere Bedeutung als Fritsch. Wahnwitziger Slapstick vom Feinsten, völlig bescheuert, völlig sinnfrei, blöd bis zum Abwinken – hinreißend.
13. Mai „Stücke“ Mülheim in der Stadthalle Mülheim: Olga Bach, Die Vernichtung, Regie Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Ein sensationeller Erfolg des kleinen Konzert Theaters aus der schweizerischen Hauptstadt, ermöglicht durch den Shooting Star der letzten zwei Jahre im Regietheater: Ersan Mondtag zeichnet bei dieser Produktion nicht nur als Regisseur verantwortlich, sondern er trug wesentlich zur Stückentwicklung bei. nachtkritik.de schrieb: „Vier Menschen proben im paradiesischen Garten die Vernichtung der Welt, sehnen sich nach der Erfüllung ihrer Paranoia und führen als zeitdiagnostische Exempel gelangweilten Hedonismus vor. Ersan Mondtags Endzeitfantasie "Die Vernichtung" am Konzert Theater Bern (ist eine) in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte.“ - Grandiose Bilder, lautstarke Partymusik und eine surreale, nach und nach sich in einer kakophonen Geräuschkulisse verlierende Sprache verbinden sich zu einem unheimlich wirkenden Abend; die Lichtregie verfremdet die Handlung zu einer optischen Halluzination. Das ist Sex, Drugs and Rock’n Roll im 21. Jahrhundert und kündet vielleicht sogar von einer Sehnsucht nach einer totalitären Welt - sowas haben Sie noch nicht gesehen!
15. – 16. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Brian Friel nach Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Regie Daniela Löffner, Gastspiel Deutsches Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Iwan Turgenjew spiegelte in seinem 1862 erschienen Roman "Väter und Söhne", wie gesellschaftliche Umbrüche in die Familie hineinwirken. Daniela Löffner macht daraus am Deutschen Theater eine kurzweilige Inszenierung um Sehnsüchte, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse“, fasst Deutschlandradio Kultur die Inszenierung zusammen. Theater heute stellt einer individuellen Würdigung der grandiosen Schauspieler die Hypothese voran, Löffner betone in ihrer Arbeit den Aspekt der Familienaufstellung und zeige Menschen „bei ihren komischen, melancholischen Verrenkungen in den Fragen „Wie soll man denken, leben, lieben““. Wenn Sie das an die einfühlsamen Tschechow-Inszenierungen erinnert, die Jürgen Gosch ebenfalls am Deutschen Theater Berlin angerührt hat, ist das kein Zufall: Löffner war über viele Jahre Goschs Assistentin. Aus ihren „Vätern und Söhnen“ macht sie ganz im Sinne von Brian Friel ein großartiges well-made play – nur dass die typischen well-made plays britischer Machart selten länger als fernsehtaugliche 90 Minuten währen, während Daniela Löffner uns über ausgewachsene vier Stunden Vergnügen bereitet. Glaubt man der Theaterkritik, vergehen sie im Fluge.
31. Mai Theater Gütersloh: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk, Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Clemens Sienknecht, Barbara Bürk und ihre Ausstatterin Anke Grot haben für „Effi Briest“ ein ziemlich durchgeknalltes Tonstudio aus der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, in dem die schon etwas angejahrten Schauspieler manchmal sogar ein wenig ein wenig Fontane spielen. Meist erklingt dessen Text allerdings von einer verkratzten Schellack-Platte. Vor allem aber legt die großartige Hamburger Schauspieler-Combo Radio-Hits auf: Schlager, Chansons oder Rock’n Roll, was immer gerade zu Fontane passt. Das ist ein Heiden-Spaß, und bei dem werden, um noch einmal die Süddeutsche zu zitieren, „alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten … in perfektem Timing gezogen“. Wenn so ebbes zum Theatertreffen geladen wird, haben sich die Juroren entweder einen April-Scherz im Februar erlaubt oder es muss wirklich gut sein.
Weiter im Repertoire: Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, Die Borderline Prozession, Regie Kay Voges, Schauspiel Dortmund. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Derzeit keine Termine. Die ausführliche Schilderung der Erlebnisse des theater:pur-Autors finden Sie hier: Die Borderline Prozession.
Auf in die Provinz, liebe Leserinnen und Leser – nirgendwo können Sie besser die Schönheit der Hauptstadt entdecken.
(Dietmar Zimmermann)
Die Provinz leuchtet. Es sei „schade, wenn es so aussieht, als liefe alles wieder nur in Berlin“, schrieb uns kürzlich eine Theatermacherin aus einem der spannendsten NRW-Häuser, die sich offenbar ein wenig geärgert hatte über den Hype, der in jedem Jahr um das Berliner Theatertreffen gemacht wird. Aber nein! Was alles in NRW läuft, lesen Sie ja regelmäßig bei theater:pur – bei Gastspielen aber leider meistens nur ex post. Viele der überregionalen Gazetten schauen in NRW nur auf die großen Festivals und auf die Renommier-Häuser in Bochum, Düsseldorf und Köln. Manche haben inzwischen begriffen, dass das avantgardistischste Theater in unserem Land derzeit in Dortmund abläuft. Wer in diesen vier Städten ins Schauspiel geht, sieht viele Highlights des nordrhein-westfälischen Theaters. Wer aber nach Gütersloh, Mülheim oder Siegen fährt, erlebt das Berliner Theatertreffen.
Gleich fünfeinhalb Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum renommiertesten deutschsprachigen Theaterfestival eingeladen wurden und sich daher stolz zu den “bemerkenswertesten” Inszenierungen der jeweiligen Spielzeit zählen dürfen, gastieren bis Ende Mai auch in NRW. Nicht in den großen Theaterstädten unseres Landes, sondern in Essen, Gütersloh, Mülheim und Siegen sehen Sie in den nächsten Wochen ein buntes Potpourri von Inszenierungen, die in den vergangenen Jahren zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden. In ihrer Unterschiedlichkeit widerlegen sie das Vorurteil, die Berliner Juroren folgten nur einem ganz bestimmten, immer gleichen Beutemuster. theater:pur wird in den kommenden Wochen über alle Gastspiele berichten – mit einer Ausnahme, die bereits im vergangenen Jahr in unserem Magazin rezensiert wurde. Hier eine kurze Vorschau:
28. / 29. April 2017 PACT Zollverein Essen: Forced Entertainment, Dirty Work / The Late Shift, Regie Tim Etchells, Forced Entertainment Sheffield in Kooperation mit PACT Zollverein Essen und HAU Hebbel am Ufer Berlin. Welturaufführung der bedeutendsten Kompanie des freien Theaters in Europa. Gleich zu Beginn müssen wir Abbitte leisten: Nicht mit „Dirty Work / The Late Shift“ ist Forced Entertainment eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017, sondern mit der Vorjahresproduktion „Real Magic“, die ebenfalls ihre Uraufführung bei PACT Zollverein erlebte. Mit ihrer neuen Produktion greift die wohl wichtigste Kompanie des Freien Theaters in Europa auf eine Arbeit aus dem Jahre 1998 zurück und verspricht, die Komik und die Surrealität der damaligen Performance noch zu erhöhen. Begleitet von einem beschädigten Plattenspieler erdenken zwei Performer „in einem kollaborativen Erfindungswettstreit par excellence … riesige Explosionen und kleinste, subatomare Teilchen, verweben historische Begebenheiten, Alltagsphänomene, unmögliche Heldentaten oder politische Reden in mal dramatischen, mal kabarettistischen Wendungen. Kein Event ist zu groß und kein Bild unaufführbar für die Performer, deren Spiel des erfundenen Theaters das Publikum mitnimmt auf eine Achterbahnfahrt durch ein überwältigendes Delirium an Szenen von erhabener Schönheit bis zu eindringlichem Schrecken: provokativ, intim und hochkomisch. In bekannter Forced Entertainment-Manier erkunden und entblößen sie eine Welt, in der das wahre Leben immer wieder als Spektakel präsentiert wird“ (aus der Ankündigung der Veranstalter). – Forced Entertainment hat im Jahre 2016 den Ibsen-Preis erhalten, der nicht nur der bedeutendste, sondern mit einem Preisgeld von umgerechnet ca. € 300.000,- auch der mit Abstand bestdotierte Theaterpreis der Welt ist. Wir erwarten ein großes Fest der Sprache und der Phantasie.
1. Mai 2017 Biennale im Apollo-Theater Siegen: Yael Ronen und Ensemble, The Situation, Regie Yael Ronen, Gastspiel Maxim Gorki Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. Pride and Prejudice im Zusammenhang mit syrischen, palästinensischen, israelischen und kasachischen Migranten in Neukölln, endend mit einem optimistischen Bekenntnis zur Utopie. Im ersten Teil besticht der Abend durch viel Witz und Slapstick, schreibt Antje van Bürck in theater:pur http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/muelheim-stuecke-situation.html, die jedoch auch den Tiefgang und die Trauer hinter den manchmal platten kabarettistischen Szenen nicht übersieht. Ronens „kluger Humor“, der in diesem turbulenten Stück lange Zeit im Vordergrund steht, sei „wahrscheinlich … das wirkungsvolle Konfliktentkrampfungsmittel“, meint Christine Wahl im Berliner Tagesspiegel. Doch dieser Humor wird durchaus gebrochen in dem grandiosen Monolog des Dimitrij Schaad, der den zwar ernsthafteren, aber immer noch unterhaltsamen zweiten Teil des Abends dominiert und zu einem schauspielerischen Kabinettstückchen wird. Der Unterzeichner mäkelte dennoch ein wenig schlechtgelaunt herum: Die Qualität von Common Ground, dem Vorgänger-Stück von Yael Ronen, werde weder im Hinblick auf die künstlerischen Mittel (Struktur der Szenen-Collage!) noch im Hinblick auf dessen emotionalen Tiefgang erreicht. Ja, und? Klasse ist’s trotzdem!
5. – 6. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Franz Arnold und Ernst Bach, Die (s)panische Fliege, Regie Herbert Fritsch, Gastspiel Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2012. Von entfesseltem Nonsens, formvollendetem Quatsch, voller Clownspower und sich in Ekstase prügelnden und knutschenden Menschen schwärmen die Kritiker, und noch die humorlosesten Meckerpötte der Theaterkritik liegen sich in den Armen vor Begeisterung. Vielleicht muss man einfach nur Herbert Fritsch heißen, damit solch ein Klamauk goutiert wird, aber eins wird man zugeben müssen: Niemand pflegt einen perfekteren Umgang mit Scherz, Ironie und Satire ohne tiefere Bedeutung als Fritsch. Wahnwitziger Slapstick vom Feinsten, völlig bescheuert, völlig sinnfrei, blöd bis zum Abwinken – hinreißend.
13. Mai „Stücke“ Mülheim in der Stadthalle Mülheim: Olga Bach, Die Vernichtung, Regie Ersan Mondtag, Konzert Theater Bern. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Ein sensationeller Erfolg des kleinen Konzert Theaters aus der schweizerischen Hauptstadt, ermöglicht durch den Shooting Star der letzten zwei Jahre im Regietheater: Ersan Mondtag zeichnet bei dieser Produktion nicht nur als Regisseur verantwortlich, sondern er trug wesentlich zur Stückentwicklung bei. nachtkritik.de schrieb: „Vier Menschen proben im paradiesischen Garten die Vernichtung der Welt, sehnen sich nach der Erfüllung ihrer Paranoia und führen als zeitdiagnostische Exempel gelangweilten Hedonismus vor. Ersan Mondtags Endzeitfantasie "Die Vernichtung" am Konzert Theater Bern (ist eine) in erster Linie visuell überzeugende, phantasievoll-opulente Bilderwelt voller spektakulärer Effekte.“ - Grandiose Bilder, lautstarke Partymusik und eine surreale, nach und nach sich in einer kakophonen Geräuschkulisse verlierende Sprache verbinden sich zu einem unheimlich wirkenden Abend; die Lichtregie verfremdet die Handlung zu einer optischen Halluzination. Das ist Sex, Drugs and Rock’n Roll im 21. Jahrhundert und kündet vielleicht sogar von einer Sehnsucht nach einer totalitären Welt - sowas haben Sie noch nicht gesehen!
15. – 16. Mai Biennale im Apollo-Theater Siegen: Brian Friel nach Iwan Turgenjew, Väter und Söhne, Regie Daniela Löffner, Gastspiel Deutsches Theater Berlin. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Iwan Turgenjew spiegelte in seinem 1862 erschienen Roman "Väter und Söhne", wie gesellschaftliche Umbrüche in die Familie hineinwirken. Daniela Löffner macht daraus am Deutschen Theater eine kurzweilige Inszenierung um Sehnsüchte, Macht- und Ohnmachtsverhältnisse“, fasst Deutschlandradio Kultur die Inszenierung zusammen. Theater heute stellt einer individuellen Würdigung der grandiosen Schauspieler die Hypothese voran, Löffner betone in ihrer Arbeit den Aspekt der Familienaufstellung und zeige Menschen „bei ihren komischen, melancholischen Verrenkungen in den Fragen „Wie soll man denken, leben, lieben““. Wenn Sie das an die einfühlsamen Tschechow-Inszenierungen erinnert, die Jürgen Gosch ebenfalls am Deutschen Theater Berlin angerührt hat, ist das kein Zufall: Löffner war über viele Jahre Goschs Assistentin. Aus ihren „Vätern und Söhnen“ macht sie ganz im Sinne von Brian Friel ein großartiges well-made play – nur dass die typischen well-made plays britischer Machart selten länger als fernsehtaugliche 90 Minuten währen, während Daniela Löffner uns über ausgewachsene vier Stunden Vergnügen bereitet. Glaubt man der Theaterkritik, vergehen sie im Fluge.
31. Mai Theater Gütersloh: Clemens Sienknecht und Barbara Bürk: Effi Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie, Regie Clemens Sienknecht und Barbara Bürk, Gastspiel Deutsches Schauspielhaus Hamburg. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2016. „Das wirklich Erstaunliche an der scheinbaren Verhohnepipelung ist, dass Geschichte, Konflikte und Stimmungen dieses protestantischen Unliebesromans vollkommen sicher getroffen werden,“ schreibt die Süddeutsche Zeitung. Clemens Sienknecht, Barbara Bürk und ihre Ausstatterin Anke Grot haben für „Effi Briest“ ein ziemlich durchgeknalltes Tonstudio aus der 70er Jahren des 20. Jahrhunderts gebaut, in dem die schon etwas angejahrten Schauspieler manchmal sogar ein wenig ein wenig Fontane spielen. Meist erklingt dessen Text allerdings von einer verkratzten Schellack-Platte. Vor allem aber legt die großartige Hamburger Schauspieler-Combo Radio-Hits auf: Schlager, Chansons oder Rock’n Roll, was immer gerade zu Fontane passt. Das ist ein Heiden-Spaß, und bei dem werden, um noch einmal die Süddeutsche zu zitieren, „alle Register von Running Gags zu Sarkasmus, Slapstick und Parodie, Kalauern, absichtlichen Versprechern und Tierlauten … in perfektem Timing gezogen“. Wenn so ebbes zum Theatertreffen geladen wird, haben sich die Juroren entweder einen April-Scherz im Februar erlaubt oder es muss wirklich gut sein.
Weiter im Repertoire: Kay Voges, Dirk Baumann und Alexander Kerlin, Die Borderline Prozession, Regie Kay Voges, Schauspiel Dortmund. Eingeladen zum Berliner Theatertreffen 2017. Derzeit keine Termine. Die ausführliche Schilderung der Erlebnisse des theater:pur-Autors finden Sie hier: http://theaterpur.net/theater/schauspiel/2016/05/dortmund-borderline.html
Auf in die Provinz, liebe Leserinnen und Leser – nirgendwo können Sie besser die Schönheit der Hauptstadt entdecken.
(Dietmar Zimmermann)