Übrigens …

Roberto Ciullis ungewöhnliches Theaterleben in Buchform

Der Clown als Symbol der Erkenntnis

Von Günther Hennecke

Des Deutschen Sehnsucht nach Italien, dem Land, „wo die Zitronen blüh’n“, ist sprichwörtlich. Wer kennt das Klischee nicht! Doch Sehnsucht nach Deutschland, und das in der Seele eines Italieners? Man mag es kaum glauben. Doch Roberto Ciulli, der 1965 als 31-Jähriger nach Deutschland kam und vor 40 Jahren gemeinsam mit Helmut Schäfer und dem mittlerweile verstorbenen Gralf-Edzard Habben eine der ungewöhnlichsten Bühnen im deutschsprachigen Raum gegründet hat, das „Theater an der Ruhr“ in Mülheim, macht es glaubhaft: In Göttingen, wo er, nach einer Zeit als Gastarbeiter und LKW-Fahrer fürs Theater, zum Beleuchter avanciert war, „stand ich oben im Schnürboden und hörte die Worte Lessings und Kleists – und habe mich verliebt in diese Sprache. Das ist der Grund, weshalb ich hier bin.“
Dass er einst in Padua mit einer Arbeit über Hegel zum Doktor der Philosophie promoviert worden war, mag ein weiterer Grund für Ciullis Sehnsucht nach dem Norden gewesen sein. Jedenfalls hat er hier seitdem immer wieder mitreißende Theater-Wunder geschaffen. Ein Bildmagier, wie er im Buche steht.
Als ihm Hansgünther Heyme 1972 anbot, Mitglied des Schauspieldirektoriums in Köln zu werden, war er auf Deutschlands Bühnen endgültig angekommen. Roberto Ciulli hatte es geschafft. Aus dem glühenden Verehrer Giorgio Strehlers und seines Piccolo-Theaters in Mailand wurde rasch ein bewunderter Regisseur. Mit Heyme mischte er in Köln die Theaterwelt auf. Goldoni zeigte er völlig neu, auch mit Eduardo di Filippo machte er auf sich aufmerksam. Ebenso mit Heinar Kipphardts „März. Ein Künstlerleben“, das er als Uraufführung während seiner Jahre am Düsseldorfer Schauspielhaus herausbrachte. Ciulli ist ein begnadeter Künstler, der dank der Kraft seiner Bild-Erfindungen fasziniert. Nicht Worte sind seine Botschaft, Bilder machen sein Theater unverwechselbar.
Sehr bald hat sich die Welt für Roberto Ciulli zur internationalen Bühne des Erfolgs erweitert: Peter Handkes „Kaspar“ präsentierte er in Kasachstan, Georg Büchners „Danton“ in Ankara, Federico Garcia Lorcas „Bernarda Albas Haus“ ausgerechnet im Iran. Er scheut sich nicht, sein Theater aller Welt zu zeigen. Dass die Theater der Welt auch in ihre Theater–Philosophie blicken lassen, gehört zur Weltsicht des Italieners.
Neugier und Einladungen führten ihn und sein Mülheimer Ensemble mittlerweile in über 40 Länder der Erde. Ciulli rief auch die Bedeutung der alten „Seidenstraße“ wieder ins Bewusstsein und verwies damit auf eine Zeit, in der kultureller Austausch zwischen Ost und West in voller Blüte stand.
Ciulli ist ein Magier, der mit Humor und Unternehmungsgeist, Ironie und Witz die Theaterbühne zur Welt erweitert, ohne je seine Neugier und Naivität, gepaart mit Weisheit, zu verlieren. So hat er Saint-Exuperys „Der kleine Prinz“ nicht nur inszeniert, er spielt ihn auch selbst, seit Jahren und überall. Ein 85–Jähriger als staunendes Kind. Ein Italiener, der spielt. Ein Philosoph auf dem Theater.
Seit einigen Tagen sind nun Leben und Werk Ciullis in gleich zwei voluminösen Bänden aufgeblättert. „Der fremde Blick“ soll, so die Herausgeber, diesem ungewöhnlichen Wanderer zwischen den Theatern in aller Welt mit eigenen Texten und Kritiken, Fotos, Interviews und Anmerkungen aus über sechs Jahrzehnten ein „Denkmal in Buchform“ setzen. Es reicht von den Tagen einer wohlbehüteten Kindheit über die Flucht gen Norden bis zu seinen Theater-Triumphen. In seinen eigenen Inszenierungen erscheint er oft als Clown – für ihn „ein Symbol der Aufklärung“, das das „Lachen der Erkenntnis verkörpert, das nah am Weinen ist“. Ciulli lässt es oft aufscheinen, sowohl das Lachen wie das Weinen. Ein mittlerweile 86-jähriger Weiser, dem dabei nichts Alltägliches fremd ist.


Der fremde Blick – Roberto Ciulli und das Theater an der Ruhr

Gespräche, Texte, Fotos, Material

2020
1280 Seiten. 450 Abb.. 15,0 x 23,0 cm. Leseband. Banderole. Hardcover. Prägung. Fadenheftung. 2 Bände mit zahlreichen farbigen Abbildungen und einem Bildessay von Knut W. Maron
ISBN 978-3-89581-491-4
35,– €