Mülheimer Dramatikpreis an Maria Milisavljevic
von Dietmar Zimmermann
Es war eine Minute vor Mitternacht, als die Jury des Mülheimer Dramatikpreises ihre Entscheidung bekannt gab. Trotzdem waren es nicht das Geisterstück Altbau in zentraler Lage und die Autorin Raphaela Bardutzky, die mit dem mit € 15.000,- dotierten Preis ausgezeichnet wurden. Dekoriert wurde stattdessen die aus Nordrhein-Westfalen stammende Autorin Maria Milisavljevic für ihr hochintelligent komponiertes, komplexes Stück Staubfrau, das in der Uraufführungsinszenierung vom Schauspielhaus Zürich in der Regie von Anna Stiepani gezeigt wurde. Milisavljevic hat eine zwischen Reflektion und Anklage changierende Geschichte über Femizide und häusliche Gewalt geschrieben. Drei Frauen aus drei Generationen einer Familie haben diese Gewalt erlebt und sich letztlich auf jeweils unterschiedliche Weise unterworfen. Die Weitergabe des Reflexes der Unterwerfung und damit der Akzeptanz der patriarchalischen Gewaltverhältnisse über mehrere Generationen sei eine starke Setzung, betonte die Jury. Tatsächlich ist es erst die jüngste der drei Frauen, die recherchiert, reflektiert und sich – vergeblich - zu wehren versucht.
Milisavljevic und ihre Protagonistinnen schreien ihre Wut nicht heraus, sondern sie schaffen Problembewusstsein. Die große Kraft des Textes bestehe darin, konkrete Situationen in etwas Archaisches zu überführen, heißt es in der Begründung der Preis-Jury. Tatsächlich ist der Text voller Poesie. Er findet beeindruckende Sprachbilder. Ein Fluss, in dem das Opfer des zeitlich am längsten zurückliegenden Femizids verschwindet, wird zur Metapher: „Nicht mehr als Staub ist all das hier. Drum lass den Fluss ansteigen und all das wegspülen, was wegzuspülen ist.“ - Auch der in diesem Jahr erstmals mit einem Preisgeld in Höhe von € 5.000,- dotierte Publikumspreis ging an Milisavljevic und Staubfrau.
Die Poesie ist ohne Zweifel die große Stärke von Milisavljevics Drama. Nicht alle Juroren mochten sich damit abfinden, dass das Thema von häuslicher Gewalt auf solche Weise abgearbeitet wurde. In der spannenden und argumentativ hochkarätigen Debatte gab es kaum eines unter den sieben Stücken, bei dessen Bewertung sich die fünfköpfige Jury einig war. So konnte sich Milisavljevic erst nach zweimaligem Stechen gegen das ähnlich wunderbare, aber vollkommen anders geartete Stück von Bonn Park (They Them Okocha, Schauspiel Frankfurt) durchsetzen. Eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Texten gab es allerdings schon: Beide formulieren eine Gegenwartsanalyse mit poetischen Mitteln. Bonn Parks Text wirkt allerdings konkreter; zudem arbeitet er mit viel Humor. Wie durchdacht und wie exakt er gearbeitet ist, fällt erst bei genauem Lesen auf. Der Schreiber dieser Zeilen hält beide Texte für ungewöhnlich stark und gleichermaßen preiswürdig.
Etwas überraschend landete auf Platz 3 Lukas Rietzschels Stück Das beispielhafte Leben des Samuel W., gezeigt vom Gerhart Hauptmann Theater Görlitz Zittau als höchst unterhaltsame politische Recherchearbeit in der Regie des Intendanten Ingo Putz.
Bereits am 23. Mai entschied eine Jury über den Mülheimer KinderStücke-Preis. Ausgezeichnet wurde in diesem Jahr der Autor Fayer Koch für sein Stück T-Rex, bist du traurig (Steht dein T für Tränen?). In Mülheim gastierte die Uraufführung vom Theater der jungen Welt Leipzig (Regie Benedikt Grubel).
Der 1986 vom Förderverein des Theaters an der Ruhr aus der Taufe gehobene und seit 2022 im Rahmen der Mülheimer Theatertage verliehene Gordana-Kosanovic-Preis wurde in diesem Jahr von der Allein-Jurorin Christine Dössel an Barbara Nüsse für ihre Rolle in Elfriede Jelineks Asche vergeben.
theater:pur wird in Kürze einen ausführlichen Rückblick auf die Mülheimer „Stücke“-Tage werfen. Alle im Wettbewerb für die Erwachsenenstücke gezeigten Inszenierungen werden oder wurden von theater:pur rezensiert.