Übrigens …

Alternative Wege in die Galaxis

Als der Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem im Jahre 1961 in Polen nach fast zweijähriger Arbeit seinen Roman Solaris veröffentlicht, hat der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin gerade als erster Mensch vor Ort den Weltraum erkundet. Mit dem „Sputnik“ war kurz zuvor der erste Satellit ins All geschossen worden. Ein neues Kapitel der Raumfahrt war aufgeschlagen worden; das Große Buch der Entdeckungen sollte ab jetzt extraterrestrisch fortgeschrieben werden. Schon länger haben die Menschen Phantasien von Lebewesen auf einem fremden Stern beschäftigt. Und immer sind sie davon ausgegangen, dass diese Lebewesen - so merkwürdig sie auch auftreten mögen, so freundlich oder feindlich sie unserer irdischen Welt bei einem künftigen Zusammentreffen auch gegenüberstehen mögen - irdische Verhaltensmuster an den Tag legen. Das erscheine ihm doch einigermaßen unwahrscheinlich, schreibt Stanislaw Lem im Vorwort zur russischen Ausgabe seines Romans. Dass irgendwo in fernen Galaxien vernunftbegabte Lebewesen existieren - ja, das glaubt Lem schon. Irgendwann in fernen Zeiten werde die Menschheit diesen wohl auch begegnen. Aber der Weg dahin werde „angefüllt (sein) mit zahlreichen Erscheinungen, die keinerlei Analogie zu unserer irdischen Wirklichkeit haben.“

Dass die in ihren eigenen Erfahrungs- und Vorstellungswelten gefangenen Erdbewohner dieser Herausforderung gewachsen sein werden, bezweifelt nicht nur Lem. Immerhin ist ja auch denkbar, dass die fremde extraterrestrische Intelligenz der unseren überlegen ist. Vielleicht sind diese Aliens ja sogar selbst unterwegs, um die fremden Erdbewohner zu erforschen. Werden wir vielleicht sogar zu deren Spielball? - Machen wir uns auf zu unserem Science-Fiction-Abenteuer. Machen wir uns auf zum Doppelsternplaneten Solaris.

Der kreist um eine rote und eine blaue Sonne. Seit circa 100 Jahren versucht eine Gruppe von Wissenschaftlern der Gattung Homo Sapiens, ihn zu erforschen. Doch die Forschung kommt seit einiger Zeit nicht mehr voran. Zudem häufen sich Probleme bei der Kommunikation mit der den Planeten umkreisenden Forschungsstation. Also macht sich der Psychologe Kris Kelvin auf, um nach dem Rechten zu schauen. Der Planet ist vollständig bedeckt mit einem blubbernden Plasma-Ozean. Und siehe da: Es ist dieser Ozean mit Namen Polytheria, der sich als die fremde Intelligenz erweist. Er erzeugt seltsame, phantastische Formen, aber auch Abbilder von den Planeten aufsuchenden Menschen sowie deren Gedanken kann er materialisieren. Während der „roten Phase“ (also wenn der Planet um die rote Sonne kreist) dominieren bei den auf dem Planeten lebenden und arbeitenden Menschen Gefühle der Angst und Bedrohung, während in der „blauen Phase“ eher Ruhe und Frieden eintritt - Sinnestäuschungen in beiden Phasen sind nicht ausgeschlossen.

Kris muss bei seiner Ankunft auf dem Planeten feststellen, dass Gibarian, seine Vertraute auf der Raumstation, am Vortag Suizid begangen hat. Snaut, ein weiterer Forscher auf der Station, wirkt hochnervös und verwirrt; der dritte, Sartorius, scheint krampfhaft um Rationalität bemüht, wobei die Vermutung naheliegt, dass er sich mit dieser Rationalität gegen die Attacken zu schützen versucht, denen das Denken auf der Forschungsstation auf rätselhafte Weise ausgesetzt ist. Kris trifft auf beunruhigende Phänomene. Er begegnet seiner ehemaligen Partnerin Harey, die vor zehn Jahren wie Gibarian durch Selbstmord aus dem Leben geschieden ist, und kann sich mit ihr scheinbar vernünftig unterhalten. Auch mit Gibarian vermag er zu kommunizieren: „Gäste“ nennt Snaut diese ihm vertrauten, aber ihn auch zutiefst verunsichernden Erscheinungen aus einer anderen Welt. Harey erkennt, dass sie keine reale Person ist: „Das bin nicht ich. Ich bin nur ein Experiment“, heißt es in einer der Theaterfassungen, die an dieser Stelle beschrieben werden sollen.

Dieses Experiment lässt sich im Theater auf die Spitze treiben. Am Schauspiel Frankfurt materialisiert sich die eigentlich verstorbene Harey ebenso wie Kelvin während seines Aufenthalts auf dem fremden Planeten gleich in mehreren Körpern, und zwar mal mit männlichen, mal mit weiblichem Geschlecht. Und am Theater Mönchengladbach haben Kris Kelvin und Harey die Geschlechter getauscht. Kelvin wird von der großartigen Carolin Schupa verkörpert, den Harey spielt David Kösters. Bei Lem glaubt man zwar, es bei Kelvin und der verbleibenden Besatzung der Raumstation mit Männern zu tun zu haben, aber zumindest die Namen geben diesen Schluss nicht her: Sie sind mit Bedacht genderneutral gewählt. Das Frankfurter Besetzungskonzept spiegelt die vom Ozean respektive der blauen und der roten Sonne hervorgerufenen geradezu halluzinatorischen, vielleicht aber auch wesensverändernden Wahrnehmungen perfekt. Konsequenterweise ist der irdische Kris, aus dessen Sicht die Geschichte im Rückblick erzählt wird, in Frankfurt ein eindeutig binärer alter weißer Mann. Michael Schütz, der zur Erde zurückgekehrte Kelvin, wird in Frankfurt zur Anchor Person für das inhaltlich oft überforderte Publikum. Der Psychologe Kelvin aber erlebt unter den Bedingungen der außerirdischen Kraft, wie er und seine ehemalige Partnerin sich aufspalten in verschiedene (männliche und weibliche) Facetten ihrer Persönlichkeit: Betörend beschwört Polytheria, in Frankfurt vom gesamten chorisch singenden Ensemble verkörpert, die „Symmetriaden“: Sie spiegeln die den irdischen Besuchern innewohnenden Seins-Zustände „Sehnsucht, Schmerz und Licht“ wider, sind aber niemals physisch greifbar.

Zwei ungewöhnliche Theaterfassungen sind es, die in gut zweihundert Kilometern Entfernung voneinander auf die Bühne gebracht wurden. Bruno Winzen hat Stanislaw Lems Roman am Theater Krefeld Mönchengladbach mit verhältnismäßig einfachen Theatermitteln, aber in ungewöhnlichem Ambiente zur Aufführung gebracht. Christian Friedel, der mit dieser Inszenierung ein fulminantes Regie-Debüt gibt, zündet dagegen am Schauspiel Frankfurt mit Hilfe einer grandiosen Technik-, Licht- und Laser-Show ein Feuerwerk innovativer Theaterkunst. In Frankfurt sitzt man als Zuschauer brav im Parkett und staunt, was für phänomenale Bilder die Maschinerie eines großzügig ausgestatteten Theaters zu produzieren in der Lage ist. In Mönchengladbach ist der Clou die Spielstätte. Auch im Rheinland qualmt es mal aus dem Aufzug, als der schreiende Harey per Rakete ins All verfrachtet wird, auch da spielt ab und zu das Licht mit - aber in minimalem Umfang. Winzens Inszenierung ist so etwas wie armes Theater: kleine Besetzung, kaum Requisiten, kein technisches Brimborium, schöne Kostüme (Udo Hesse). Aber nicht eine Minute lang verfolgen wir das Geschehen yom Zuschauerraum aus. Die weibliche Kris Kelvin beginnt ihre Expedition im Hof des Theaters. Dort endet sie auch - mit Carolin Schupa auf dem Dach der Spielstätte und David Kösters als Video-Projektion des Harey auf der Häuserfassade. (Letzteres erscheint für den Geist eines Verstorbenen als höchst sinnfällige Lösung.) Zwischendurch spielt die Inszenierung im weitläufigen Garderobentrakt im Untergeschoss des Theaters, wo das Publikum den Akteuren von Station zu Station folgt. Wenn es erstmal in Halluzinationen versetzt ist, wirken die großzügigen Lüster aus dem vorigen Jahrhundert glatt wie Raumschiffe aus der Galaxis…

Die gibt’s in Frankfurt auch - in überwältigender Optik. Die Reise des Astronauten Kelvin zur Raumstation in einem durch die Lüfte schwebenden, aus Neon-Röhren und LED-Licht gestalteten Raumschiff wird zu einem frühen Höhepunkt einer durch herausragende Technik und großartige Effekte geprägten Aufführung. An kaum sichtbaren Seilen angekettet, gleitet Kris durch die Lüfte, in Zeitlupe sich drehend und schwebend wie Astronauten im Weltraum. In eindrucksvoller Optik senkt sich das Space Shuttle schließlich aus den Höhen des Bühnenraums ganz langsam auf die Oberfläche des Planeten.

Im Großen und Ganzen geht es in Frankfurt in diesem Stil weiter. Christian Friedel inszeniert Traum und Alptraum einer fremden, im Hinblick auf die technologische und psychologische Forschung möglicherweise überlegenen Welt eher assoziativ und bedient sich der zur Verfügung stehenden Theatermittel auf eine Weise, die kaum ein Theaterregisseur beherrscht. Die Drehbühne rotiert; großartig heben und senken sich die Bühnenelemente. Lichttechnik, Nebel und Hell-Dunkel-Effekte schaffen fast illusionistische (und damit zu den Geschehnissen auf Solaris passende) Bilder. Eine spektakuläre Lichtskulptur steht auch am Ende der Inszenierung. Überall breitet sich nun der Ozean Polytheria aus - auf der Bühne ebenso wie über den Köpfen der Zuschauer im Parkett. Scheinwerfer erschaffen Sterne, die sich im Wasser spiegeln; Laser-Kanonen werden auf das Bild geschossen. Die wabernden Wellen des Ozeans ergänzen sich mit gestochen scharfen, klaren Linien zu einem überwältigenden Lichtkunstwerk. Friedels eigene Band Woods of Birnam hat die Theatermusik komponiert und Lieder geschrieben: Ein treibender, rockiger, oft einfach nur spaciger Sound vom Band, ergänzt durch den live auf der Bühne sitzenden Schlagzeuger Max Mahlert, begleitet die Inszenierung ununterbrochen und untermalt perfekt eine grandiose, mitreißende Laser-Show. Das Son-et-Lumière-Spektakel ähnelt den gigantischen Bühnenshows, die man bei Auftritten großer Stars der Rock- und Popmusik in Stadien oder riesigen Sporthallen erleben kann: Da hat Friedel mutmaßlich auf seine Erfahrung als inzwischen auf großen Festivals auftretender Bandleader zurückgegriffen.

Leider geht das Spektakel zu Lasten des Textverständnisses. Es sei dahingestellt, ob es eine Schwäche der Textfassung oder die Dominanz der Sound- und Lightshow ist, die bewirkt, dass man als Zuschauer nur schwer dem Gang der Handlung und vor allem den inhaltlichen Zusammenhängen folgen kann. Ob der intellektuelle, erkenntnistheoretische Hintergrund von Lems Roman gebührend zur Geltung kommt, darf wohl mit Recht bezweifelt werden. Banale Dialoge wechseln sich ab mit langwierigen technologischen und pseudowissenschaftlichen Erläuterungen, die zumindest dem der Science-Fiction-Literatur Unkundigen rätselhaft bleiben. Winzens „arme“ Inszenierung in Mönchengladbach dagegen muss zwangsläufig für Textverständnis sorgen. Die Schlüsselrolle fällt dabei Carolin Schupa als Kris Kelvin zu. Brillant meistert sie ihren schwierigen, ebenfalls mit technischen oder pseudowissenschaftlichen Passagen angereicherten Mammut-Text. Dialoge zwischen Kris und dem emotionalen, scheinbar abweisenden und auf Krawall gebürsteten, tatsächlich aber nur zutiefst verunsicherten Snaut (Marie Eick-Kerssenbrock) oder dem immer noch geliebten Harey sind psychologisch nachvollziehbar und inhaltlich verständlich. Dass es sich bei der Figur des großen Babys, die der Ozean sowohl in Frankfurt als auch in Mönchengladbach hervorruft, um vom Planeten geschaffene experimentelle Nachbildungen der dauerhaftesten Spuren des menschlichen Gedächtnisses handelt, versteht man nur in der ruhigeren Mönchengladbacher Inszenierung. András Dömötörs und Meike Schmitz' Textfassung, die Regisseur Winzen noch einmal für die Krefeld-Mönchengladbacher Aufführung angepasst hat, vermittelt das komplexe Geschehen überzeugend, ohne dabei die „Atmosphäre von Verwirrung, Geheimnis, Widersprüchen, Spannung“ des Romans, die Ursula Le Guin im Programmheft erwähnt, zu sehr aufzulösen. Die Komplexität und philosophische Tiefe von Lems Roman erreicht allerdings auch Winzens Inszenierung höchstens gegen Ende. 

Sehenswert sind beide Aufführungen: die spannende, geheimnisvolle Geschichte, die wir in Mönchengladbach erleben, und das galaktische, alle Sinne durchschüttelnde Ereignis in Frankfurt. Mönchengladbach lässt uns mit ein paar Zitaten, die nachdenklich machen, innehalten: „Wir wollen nicht den Kosmos erobern. Wir wollen nur unsere Erde erweitern“, heißt es dort einmal reichlich trumpig. - Als gedankliches Fazit eignet sich ein anderes Zitat, das Stanislaw Lems Skepsis gut widerspiegelt: „Wir brauchen keine anderen Welten. Wir brauchen Spiegel. Mit anderen Welten wissen wir nichts anzufangen.“

Dietmar Zimmermann

Solaris

von/nach Stanis?aw Lem

Schauspiel Frankfurt/Theater Mönchengladbach

Regie Christian Friedel (Frankfurt)/Bruno Winzen (Mönchengladbach)

Bühne Fabian Wendling (Frankfurt)/Udo Hesse (Mönchengladbach)

Kostüme Ellen Hofmann (Frankfurt)/Udo Hesse (Mönchengladbach)

Musik Woods of Birnam (Frankfurt)

Video Clemens Walter (Frankfurt)

Choreografie Valenti Rocamora i Torá (Frankfurt)

Dramaturgie Lukas Schmelmer (Frankfurt)/Martin Vöhringer (Mönchengladbach)

Premiere 26. April 2025 (Frankfurt)/22. Juni 2025 (Mönchengladbach)

Foto oben links: Thomas Aurin (Frankfurt/Main)